© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Zum Märtyrer nicht geeignet
Blutiges Ende der Friedenskarawane: Vor 50 Jahren wurde das FDJ-Mitglied Philipp Müller in Essen erschossen
Manfred Müller

Sonntag, 11. Mai 1952 in der Nähe des Essener GRUGA-Geländes. Ein kurzer Feuerstoß aus den Waffen von Bereitschaftspolizisten - und 400 militante Demonstranten stoben auseinander. Mit einem Herzdurchschuß sank der 21jährige Philipp Müller tödlich getroffen zu Boden, zwei weitere Demonstranten erlitten Schußverletzungen. Blutiges Ende einer "Friedenskarawane der Jugend". Die damals noch legale Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die bereits verbotene Freie Deutsche Jugend (FDJ) hatten diese Massenveranstaltung organisiert.

Im Frühjahr 1952 betrieb die DDR einen heftigen propagandistischen Kampf gegen die fortschreitende Westbindung der BRD (Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Generalvertrag) und agitierte im Zusammenhang mit den Stalinschen Deutschlandnoten für den Abschluß eines Friedensvertrages und gesamtdeutsche Wahlen. Die mit ihrem Apparat in den Untergrund abgetauchte westdeutsche FDJ-Leitung wollte mit Hilfe von Bundesgenossen aus den Reihen der Remilitarisierungsgegner einen fulminanten Auftakt des "nationalen Widerstandskampfes" setzen. Per Bahn, Bus und Fahrrad sollten viele tausend Jugendliche nach Essen kommen. Die kurzfristig angemeldete "überparteiliche Veranstaltung" wurde von der Stadt Essen verboten. Dennoch machten sich 30.000 Anhänger und Sympathisanten von FDJ und KPD auf den Weg: "Wir fahren nach Essen trotz Verbot!"

10.000 bis 20.000 Demonstranten erreichten trotz polizeilicher Verhinderungstaktik Essen. Hier hatte die Polizei rund um das GRUGA-Gelände Sperren errichtet. Lautsprecher der Polizei und des überparteilich zusammengesetzten Veranstaltungskomitees wiesen auf das Verbot hin und forderten zur Umkehr auf. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda sorgte die FDJ dafür, daß etwa 2.000 Teilnehmer am frühen Nachmittag auf dem Vorplatz der GRUGA zusammenkamen. Man wollte der Polizei die Stirn bieten.

Mit Schlagstöcken und Wasserwerfern versuchte die Polizei die Menge zu zerstreuen, dennoch bildeten sich in den Seitenstraßen immer wieder kleinere Demonstrationszüge. Aus einem Zug von etwa 400 Demonstranten prasselte ein Steinhagel auf die Polizisten. Der Einsatzleiter fürchtete (bei den damaligen ganz unzureichenden Schutzmöglichkeiten der Polizisten) um, wie er später vor Gericht aussagte, Leib und Leben der Beamten. Er drohte Schußwaffengebrauch an, gab ohne Erfolg drei Warnschüsse ab und erteilte dann den Feuerbefehl.

In der Gerichtsverhandlung konnte die Version, die von BRD-Zeitungen verbreitet worden war, nicht bewiesen werden: "Getarnte FDJ schießt auf Polizei" (so die Welt). Allerdings war die Gewaltbereitschaft dieser 2.000 hartgesottenen FDJ-Anhänger hoch. So brüstete sich die FDJ-Landesleitung Niedersachsen: "Ein Spitzel, der beobachtet wurde, wie er einige Freunde der Polizei auslieferte, wurde von unseren Freunden zusammengeschlagen. Dieser Spitzel blieb bewußtlos in seinem eigenen Blute liegen."

Der von der Polizei erschossene Philipp Müller stammte aus einer Münchner Arbeiterfamilie, war Eisenbahn-Maschinenschlosser, Gewerkschafter, Vorsitzender der FDJ-Betriebsgruppe und Mitglied der FDJ-Bezirksleitung München, ferner seit 1950 Mitglied der KPD. Hinterbliebene waren Müllers Ehefrau Ortrud (Sachbearbeiterin in einer Berliner FDJ-Kreisleitung) und ein noch nicht einjähriger Sohn. Sofort stilisierte die DDR-Propaganda den "ermordeten" Philipp Müller zum "deutschen Nationalhelden". 3.000 Menschen kamen in München zum Begräbnis Müllers. Bei der Trauerfeier täuschte man den Versammelten mit einem bedenklichen Kunstgriff "Bündnisbreite" vor. Ein Mann in Pfadfinderuniform trat als Trauerredner auf. Wie sich später herausstellte, war es der FDJ-Funktionär Fleckenstein, ehemaliger HJ-Führer und Oberfähnrich der Kriegsmarine, KPD-Mitglied und im Zentralbüro der FDJ zuständig für Kontakte zu Pfadfinderorganisationen.

In der DDR fanden Protestdemonstrationen statt. Straßen, Plätze, Jugendkollektive und Fabriken erhielten den Namen des Erschossenen. Paul Wiens und Paul Dessau schrieben eigens das Kampflied "Philipp Müller, Kind des Vaterlandes". Das VI. Parlament der FDJ vom 27. bis 30. Mai 1952 in Leipzig stand ganz im Zeichen Philipp Müllers. Die Fahnen wehten auf Halbmast, und in der Vorhalle des Kongreßgebäudes hielten Angehörige der Kasernierten Volkspolizei vor einem Riesenporträt Müllers Ehrenwache. Erich Honecker und Walter Ulbricht nutzten den Tod Philipp Müllers, um die Jugendlichen auf die Remilitarisierung der DDR und die vormilitärische Ausbildung der FDJ einzuschwören.

In der Bundesrepublik gelang es den Kommunisten nicht, eine Solidarisierungswelle hervorzurufen vergleichbar etwa den Auswirkungen, welche die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in West-Berlin auslöste. In der DDR blieb der Kult um Philipp Müller weit hinter dem zurück, was die Nationalsozialisten um den Tod von Albert Leo Schlageter (1923 von der französischen Besatzungsmacht exekutiert) und den Tod von Horst Wessel (1930 von Kommunisten erschossen) inszenierten.

Kurz vor der Wende hieß es 1989 im DDR-Geschichtslehrbuch für Klasse 10 lapidar über die "Ermordung" des FDJ-Mitglieds: "Die Reaktion antwortete mit brutaler Gewalt. Auf ihr Blutkonto kam beispielsweise auch der Mord an dem jungen Gewerkschafter und Kommunisten Philipp Müller, der am 11. Mai 1952 an einer friedlichen Demonstration in Essen teilnahm und dabei von der Polizei erschossen wurde."

 

Gedenken an Philipp Müller: An seinem 50. Todestag organisiert eine "Initiativgruppe zur Rehabilitierung des Kalten Krieges" der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) eine Demonstration in Essen gegen die "Kriegspolitik" der rot-grünen Bundesregierung. In einem Aufruf der DKP werden die Ereignisse von 1952 allen Ernstes als "Essener Blutsonntag" bezeichnet.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen