© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Offene Drohung aus Berlin
Wettbewerbspolitik: Die EU wird immer mehr zum Basar heimischer Interessen / Schröder propagiert neue Industriepolitik
Bernd-Thomas Ramb

Wie jedem anderen Land in der Gemeinschaft steht es auch uns Deutschen zu, un-sere wohl verstandenen Eigeninteressen in Europa zu vertreten." Der Satz, in Zeiten des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl eine Äußerung mit zwangsläufig rechtsextremistischer Verdächtigung, stammt aus dem Mund des amtierenden Kanzlers. Ende März dieses Jahres, anläßlich einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zu den Ergebnissen des Europäischen Rates von Barcelona, skizzierte Gerhard Schröder öffentlich, was er Anfang Mai bei einem vertraulichen abendlichen Diner im Brüssler Zwei-Sterne-Restaurant "De Bijgaarden" mit dem EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi festklopfte, die künftige Industriepolitik Deutschlands im Rahmen der Europäischen Union. Es solle keine deutsche Industriepolitik sein, sondern eine europäische, versuchte der Bundeskanzler zu beschwichtigen. Die Opposition aber klassifizierte sein Vorhaben gnadenlos als "nationalistischen Rückfall".

Neu ist die national orientierte Verhaltensweise innerhalb der EU allenfalls für Deutschland, sonst aber kaum. Schon immer wußten vor allem England und Frankreich ihre nationalen Interessen gekonnt durchzusetzen, während insbesondere das Kohl-Deutschland sich in vornehmer Zurückhaltung übte. Kein Wunder also, wenn der Bundestagsfraktionschef der CDU/CSU, Friedrich Merz, die Äußerung des Bundeskanzlers, Deutschland als größter Beitragszahler der Europäischen Union könne seinen Verpflichtungen nur nachkommen, wenn "wir nicht überfordert werden, wenn Rücksicht genommen wird auf die besondere Situation im vereinten Deutschland", in altem Reflex als offene Drohung der Bundesregierung an die Adresse Brüssels anprangerte. Schröder spielte zweifellos auf die Tatsache an, daß die Bundesrepublik mit etwa neun Milliarden Euro netto jährlich mehr als die Hälfte der gesamten EU-Kosten zu tragen hat. Eine "offene Drohung" erfordert allerdings die ausdrückliche Ankündigung einer möglichen Kürzung dieser Zahlungen. So weit will Schröder dann aber doch nicht gehen.

Daß die Bundesregierung ihre Interessen auf der europäischen Ebene durchsetzen kann, auch ohne die Keule der Zahlungskürzung zu schwingen, beweist der jüngste Kuhhandel zur Rettung der deutschen Steinkohlesubventionen. Diese sollten bereits vor Jahren auf Drängen der EU, aber auch nach dem Ratschlag der Wirtschaftssachverständigen, der Vergangenheit angehören. Jede Regierung, auch die Kohlsche, die 1981 mit eben diesem Versprechen die Regierungsgewalt übernommen hatte, verstand es jedoch immer wieder, die Kohlebeihilfen am Leben zu erhalten. Die nun erzielte Genehmigung zur Verlängerung der Kohlesubvention bis zum Jahr 2010 wurde mit einem Bündel international abgestimmter Zugeständnisse bei Steuersubventionen und Transportbeschränkungen erkauft. Da erhalten Frankreich, Italien und Holland die Erlaubnis, ihren Spediteuren Steuererleichterungen beim Dieselkraftstoff zu gewähren - in den Augen der EU-Kommission ein illegales Verhalten. Belgien darf, ebenso EU-unzulässig, seine Versicherungssteuer kürzen und Österreich bekommt die Zustimmung für sein "Ökopunktesystem" zur Begrenzung des steigenden Alpentransits.

Die Mauschelei der EU-Regierung geht zu Lasten der EU-Kommission, sie wird geradezu zum Hanswurst der Europäischen Union degradiert, so daß EU-Vizepräsidentin und Verkehrskommissarin Loyola de Palacio eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof vorschlug. Ihre resignierenden männlichen Kollegen wollen es dagegen bei einem förmlichen Protest bewenden lassen. Sie haben offensichtlich erkannt, daß gegen die Schröder-Blair-Vorstellung von einer Europapolitik, die weniger von Verträgen als vielmehr von Tagesvereinbarungen im EU-Regierungsrat bestimmt ist, kein Widerstand mehr sinnvoll ist. Schröder ist seinem Ziel, die EU-Kommission zu entmachten und zum bloßen Erfüllungsgehilfen der europäischen Regierungschefs zu entwerten, wieder einen großen Schritt näher gekommen.

Die Abkanzelung der EU-Kommission mag im Hinblick auf eine zukünftig praktikablere Europäische Union durchaus sinnvoll sein. Gleichwohl ist der Gegenstand der EU-Revolution fragwürdig. Schröders Ziel ist eine, wenn auch europäisch abgestimmte, so doch deutsche Industriepolitik. Der populistische Charme der nationalen Ausrichtung verdeckt leicht die Tatsache, daß Industriepolitik für sich genommen höchst zweifelhaft und wenig zukunftsträchtig ist. Sicher hofft der Kanzler auch durchaus eigennützig auf die Lobby der Großindustrie, von der Automobilbranche über den Schiffbau und die Stahlindustrie bis hin zu den traditionell SPD-nahestehenden Kumpeln der Bergbauindustrie. Alle diese Branchen sind jedoch im Niedergang begriffen. Der Vorwurf des Bundeswirtschaftsministers Müller, die Opposition strebe mit einer Kritik an der Industriepolitik der Regierung ein "entindustrialisiertes" Deutschland an, verwechselt Ursache und Wirkung. Deutschland ist wie viele ehemalige Industriestaaten in einer Deindustrialisierungsphase. Die damit verbundene Freisetzung von Arbeitskräften will die Bundesregierung durch anhaltende Subventionierung aufhalten. Doch dieser Kampf kann auf Dauer nicht gewonnen werden.

Die Europäische Union hingegen hat mit ihrem ureigensten Ziel eines freien Handels innerhalb Europas genau das Gegenteil zur Aufgabe, die konsequente Beseitigung staatlicher Eingriffe in wirtschaftliche Entwicklungen. Bei aller Gleichmacherei und Bevormundungsattitüden bestand der wirtschaftspolitisch unstreitige Vorteil der EU in einer geradlinigen und unbeirrten Wettbewerbspolitik, von einigen sicher gelegentlich als unbarmherzig empfunden, im Hinblick auf eine Wohlstandsmehrung der europäischen Volkswirtschaften aber unerläßlich. Der Kampf Schröders gegen Brüssel erscheint daher nur auf den ersten Blick als nationale Wohltat: Dahinter steht die uralte sozialistische Vorstellung einer staatlich alimentierten wie organisierten Zentralverwaltungswirtschaft.


 
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