© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
PRO&CONTRA
EU-Beitritt trotz Benes-Dekreten?
Milos Zeman und Günter Verheugen / Rudolf Kucera

In jüngster Zeit wurden in der Öffentlichkeit einige Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten aus dem Jahre 1945 und deren Niederschlag im tschechoslowakischen Recht in der unmittelbaren Nachkriegszeit heftig diskutiert. Wenn sie an gegenwärtigen Standards gemessen würden, hätten diese Rechtsvorschriften heute ebenso wenig Bestand wie manche Maßnahmen, die andere europäische Staaten in jenen Jahren getroffen haben - aber sie sind Geschichte.

Gemäß EG-Vertrag müssen die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen die Bewerberländer danach beurteilen, wie sie sich heute darstellen, und nicht nach ihrer Vergangenheit. Kein Teil der Rechtsordnung eines Bewerberlandes, der heute noch rechtliche Auswirkungen haben kann, entgeht der genauen Prüfung des EG-Rechts. Vor diesem Hintergrund prüfen wir die erwähnten Dekrete sorgfältig. Bislang wurde festgestellt, daß diejenigen, die sich auf die Staatsbürgerschaft und auf das Eigentum beziehen, schon aufgrund ihrer Art und ihres Inhalts keine rechtliche Wirkung mehr haben. Deshalb vertreten wir weiter die Auffassung, daß diese tschechoslowakischen Präsidenten-Dekrete nicht Teil der Beitrittsverhandlungen sind und auch keine Auswirkungen auf diese haben sollten. Die Prüfungen anderer Dekrete dauern noch an. Auch das Thema Restitution in der tschechoslowakischen Rechtsprechung und Praxis seit Anfang der neunziger Jahre wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. Wir sind uns im Klaren darüber, daß der EG-Vertrag (der den Begriff der europäischen Staatsbürgerschaft enthält) die Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft verbietet. Unter Wahrung des Stichtags 25. Februar 1948, der im tschechoslowakischen Restitutionsrecht festgelegt ist, prüfen die tschechischen Behörden derzeit die Rechtslage mit dem Ziel, diese gegebenenfalls bis zum Beitritt der Tschechischen Republik zur EU an den gemeinsamen Besitzstand anzupassen."

 

Gemeinsames Kommuniqué von Milos Zeman und Günter Verheugen, das im April in Prag verabschiedet wurde.

 

 

Das, was von uns mehrere politische Repräsentanten wollen, ist, daß wir uns vom Unrecht distanzieren, das auf der Grundlage der Benes-Dekrete begangen wurde. Denn dabei wurden mit staatlicher Zustimmung universal geltende Werte der Menschen- und Bürgerrechte mißachtet. Die Erklärungen, daß die Dekrete heutzutage "ausgelöscht" seien und lediglich nach dem Kriegsende ihre Rechtswirkung erfolgte, daß sie heutzutage keine Rechtsverhältnisse mehr begründen, sind nicht überzeugend. Die Dekrete sind nach wie vor ein Bestandteil der CR-Rechtsordnung und durch ihre Rechtsfolgen leiden mehrere Tausende CR-Staatsbürger deutscher Nationalität auch heute noch, die dadurch de facto Bürger zweiter Klasse sind. Die Dekrete werden außerdem immer noch in der Praxis der CR-Gerichte benutzt. Daher geht es darum, ihre Gültigkeit definitiv zu beenden, und zwar von jetzt an. Dadurch würde die Restitutionsgrenze Februar 1948 nicht durchbrochen und es würde nur vom Staat abhängen - nicht von den jetzigen privaten tschechischen Besitzern des einstigen sudetendeutschen Eigentums - ob er eventuell eine Entschädigung denjenigen Opfern der Nachkriegsgewalt gewährt, die nicht gegen die CSR-Gesetze verstoßen haben. Meiner Ansicht nach kann man mit den Benes-Dekreten als Bestandteil des CR-Rechtssystems nicht der EU beitreten. Man muß mit ihnen etwas tun: ihre Gültigkeit eindeutig beenden und sicherstellen, daß sich nie mehr jene Gewalt und jenes Unrecht wiederholen können, die auf ihrer Grundlage begangen wurden. Es muß klargestellt werden, daß man keine politischen Probleme mit Hilfe ethnischer Säuberungen lösen darf und daß in der EU kein Mitgliedsstaat ist, der derartige Lösung für möglich oder sogar für gerecht hält. Das NS-Unrechtsregime hat in böhmischen Ländern während des Krieges "den Boden für Nachkriegsereignisse" lediglich vorbereitet, wie es die gemeinsame tschechisch-deutsche Deklaration konstatiert, es war jedoch keine Ursache, die sie rechtfertigen würde.

 

Prof. Dr. Rudolf Kucera ist Politikwissenschaftler an der Karls-Universität in Prag.


 
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