© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   20/02 10. Mai 2002


Mehr Zeit für Kinder!
Die Familie trägt die Hauptverantwortung für Erziehung
Ellen Kositza

Erfurt" ist zu einer Art Synonym für den unsäglichen Tiefpunkt gesellschaftlicher Mißstände geworden. Das ist es aber nicht. Trotz infantil-provokanter Trittbrettfahrer, die, verführt durch das jedes Maß sprengende Medieninteresse, mittels Drohungen unter Verweis auf "Erfurt" ihre mißliebigen Lehrer nun schocken wollen - Robert Steinhäuser ist nicht die Speerspitze eines beängstigenden Trends. Die mörderische Bluttat von Erfurt ist das einzigartige Massaker eines todessüchtigen Psychopathen, ebenso einzigartig und durch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen auszuschließen wie ähnlich gelagerte Amokläufe, die nun von den Medien herbeigesammelt werden, um "Erfurt" in einen Trend mit Horrorvision einzubetten. Die Tat des 19jährigen war ein - allein quantitativ schwer zu übertreffender - Einzelfall, wie die alltäglichen Morde, blutigen Familiendramen und großstädtischen Schießereien persönliche Tragödien und Einzelfälle sind, die meist nur kurzzeitiges Bedenken, selten politischen Aktionismus auslösen.

Und doch tut die gesellschaftspolitische Debatte, die mit seltenem Eifer derzeit durch den Blätterwald und die Fernsehkanäle rauscht, not. Auffällig ist dabei, daß ein Großteil der unter dem Mantel der "Ursachenforschung" eilends herbeidiskutierten Maßnahmen wie von Weltfremdheit geschlagen erscheinen. Es heißt, der Massenmörder aus Thüringen hörte brutale Musik und spielte mörderische Computerspiele. Ein Psychologe warnt, wenn ein Schüler sich in Traumwelten zurückziehe und Gewaltphantasien entwickele, müßten "die Alarmglocken schrillen", sonst könnte es Tote geben. Deutsche Hauptschulen, wenigstens ihr männlicher Schüleranteil, würden nahezu komplett durch dieses Kontrollraster fallen.

Perverse Computerspiele, seit gut einem Jahrzehnt das Hobby pubertierender Kinder und die Standardbeschäftigung junger Zivil- und Wehrdienstleistender nach Dienstschluß, werden von auf einmal hellwachen welt-und jugendfremden Experten als das eigentlich tatauslösende Teufelswerkzeug entdeckt. Der Focus druckt großflächig Texte der widerlichen US-Band Slipknot ("Menschen sind Scheiße") ab, die seit Jahren bestbesuchte Auftritte in Deutschland feiern darf. Zufällig standen eben keine "Eminem"- oder "Brothers Keepers"-Platten im Regal des 19jährigen Mörders. Und als wären Schützenvereine nun als Brutstätte des Grauens entlarvt, wird im Schnellschuß das Mindesterwerbsalter für Sportwaffen von 18 auf 25 hochgeredet. Ungeachtet der Tatsache, daß es an manchen Orten Deutschlands für fehlgeleitete Jugendliche ebenso leicht ist, eine Waffe zu erwerben wie ein paar Gramm Marihuana, gerät das Waffengesetz in Kritik, wird das Alter der Volljährigkeit diskutiert, als wäre ein kranker Mensch wie Steinhäuser binnen zwei Jahren zu einer wesensverändernden und tatverhindernden Reife gelangt.

Sicher zurecht wird aber auf die große Brache im Feld der Erziehung hingewiesen. Doch auch hier werden Vorschläge laut, die nur solche äußern können, die mit der Realität an bundesdeutschen Schulen selten persönlich konfrontiert werden. Mehr Verständnis, mehr Sorge für verhaltensauffällige Schüler, "Mediatoren" an allen Schulen werden gefordert. Das System der Mediatoren kommt aus den USA und sieht vor, daß in "Konfliktbewältigung" geschulte Schüler vermittelnd und neutral in Streitigkeiten unter Mitschülern eingreifen, beruhigen und schlichten. Das mag an Gymnasien, wo "Diskursfähigkeit" im Unterricht als Lernziel gilt, ein probables Mittel sein, was aber an den vielen anderen Lehrstätten, wo die Sprache der Fäuste auf dem Schulhof an der Tagesordnung ist? Der brave Mediator würde dort als Clown und Streber verlacht.

Zusätzlich werden psychologisch geschulte Lehrer gefordert, die sich Sorgenkindern in Gesprächen annehmen sollen. Tatsächlich gibt es seit Jahren kaum eine Schule ohne solche Vertrauenslehrer. Ist dabei nicht überdeutlich, daß sowohl der als "unauffällig" geschilderte Erfurter Attentäter als auch die Vielzahl an Schülern, über die Lehrer klagen, an sie wäre nicht "ranzukommen", auch über die Eltern nicht, durch dieses Netz bemühter Fürsorge und Verständnisses haltlos durchrasseln?

Wenigstens eines kommt diesen vorschnellen Lösungsmodellen und Erklärungsansätzen zugute: Das Land wacht auf. Es bleibt zu hoffen, daß auch die Lehrer nun deutlich werden, statt in nachsichtiger Gutmenschenart den desolaten seelischen Zustand der Schülerschaft schönzureden. Verdrängung gibt es hier allenthalben. Und vielleicht wird, wenn man endlich tiefer gräbt, klar, woran es der Masse fehlgeleiteter Kinder und Jugendlicher - auch den "unauffälligen", die ihre Gewaltphantasien nur ins Bett statt bewaffnet in die Schule tragen - wirklich mangelt: an Erziehung, und die haben nicht Lehrer zu verantworten, sondern sie muß im Elternhaus beginnen.

Es wurde schon oft gesagt, daß es nicht Aufgabe der Lehrer sein kann, neben ihrem Bildungsauftrag die Arbeit nachzuholen, die Eltern an ihren Kindern über Jahre versäumt haben. Das Versagen bei Gewaltverbrechen unter Jugendlichen ist primär viel weniger in der Schule und beim staatlichen System zu suchen. Gesetze werden hier nicht den erforderlichen Einhalt gebieten können. Kindliche Fehlentwicklungen sind wesentlich und ursächlich einem viel engerem Kreise anzulasten: Den Familien und dem näheren, familiär zu prägenden Umfeld des Heranwachsenden. Daß verantwortungsbewußte Elternschaft in einer Welt, globalisiert und komplex wie nie, keine einfache Aufgabe mehr ist, ist die andere Seite. Freilich sehen sich Eltern überfordert, immerhin ist es die Politik und damit auch das weite Feld der "Gesellschaft", welches der Familie als Hort von Wesens-, von Herzensbildung einen immer geringeren Stellenwert zugebilligt hat.

In einer Gesellschaft wie der unseren, wo Gewalt gleichzeitig das höchste Tabu und doch als globalisierte Brutalität via Medien omnipräsent ist, wo Talkshows den Seelenmüll asozialer Randgestalten bald rund um die Uhr in die heimischen Wohnzimmer ausleeren, wachsen Moralvorstellungen und Werteverständnis nicht von allein.

Die so lautstark geforderte Möglichkeit zur ganztägigen Fremdbetreuung von Kindern kann hier den Auftrag nicht übernehmen, den die Eltern bei der Geburt ihres Kindes übernommen haben. Mit welchen Spielen ein Heranwachsender sich beschäftigt, wie lange welche Sendungen im Fernsehen angeschaut werden, ob er seine Schule überhaupt noch besucht, dies alles liegt im Verantwortungsbereich der Eltern. Auch, wenn ihr Kind die Volljährigkeit gerade überschritten hat. Erziehung ist eine Lebensaufgabe.


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