© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002

 
Das verschwiegene Leid
Eine Dauerausstellung widmet sich der Geschichte des sowjetischen Speziallagers Sachsenhausen 1945-1950
Ekkehard Schultz

Seit Dezember des vergangenen Jahres ist auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg eine Dauerausstellung zu sehen, die sich der Geschichte des sowjetischen Speziallagers widmet, welches nach 1945 am gleichen Ort existierte. Die Eröffnung war von Protesten russischer Regierungsvertreter überschattet, die der Ausstellung eine falsche Betrachtungsweise vorwarfen und sich sogar zu der Behauptung verstiegen, die hier nach 1945 Inhaftierten seien Verbrecher gewesen, die aus nachvollziehbaren Gründen ihre Strafe bzw. einen Teil ihrer Strafe verbüßten. Aber auch Vertreter der Opferverbände meldeten Kritik an: Nach ihrer Meinung werden ihre Leiden nicht ausreichend dargestellt bzw. teilweise Verständnis für die Täter geäußert. Zudem sei der neue Ausstellungspavillon unglücklich am Rande des Lagers plaziert und leicht zu übersehen.

Um es vorwegzunehmen: Die Ausstellung über das sowjetische Speziallager ist eine von derzeit insgesamt zehn Teilausstellungen, von denen sich alle anderen ausnahmslos mit der Geschichte und Rezeption des nationalsozialistischen Konzentrationslagers beschäftigen. Lediglich ein weiterer Komplex, der sich thematisch mit der Instrumentalisierung der NS-Opfer und des Ortes in der DDR auseinandersetzt, fällt noch etwas aus diesem Schema heraus. Sogar die frühere DDR-Ausstellung wurde bis auf wenige Teile belassen, viele Teile tragen eine unverkennbare DDR-Handschrift, teilweise sogar noch im Stil der Propaganda des Kalten Krieges. Die erdrückende Überpräsenz der Geschichte vor 1945 wird zudem durch das Gelände betont, auf dem die DDR-Gedenkstätten aufgrund ihrer Größe und ihrer Gestaltungsweise optisch deutlich hervorragen.

Dagegen befindet sich die Speziallager-Ausstellung in einer kleinen, nahezu quadratischen Beton-Stahl-Konstruktion, die von außen betrachtet einen geduckten, fast versteckten Eindruck vermittelt. Jeder, der die Ausstellung besuchen möchte, muß zwangsläufig an der KZ-Pathologie mit Leichenkeller, dem sogenannten Erschießungsgang, an Resten des ehemaligen Krematoriums sowie an mehreren überdimensionierten DDR-Ehrenmalen vorbei, während jeder andere Besucher seinen Rundgang über das Gelände weit vor der Sichtung dieses Komplexes an jedem beliebigen Ort abbrechen kann. So wird jedem Interessenten subtil vermittelt, daß es sich bei diesem Teil bestenfalls um einen Zusatz, um eine Ergänzung der Geschichte des Gesamtgeländes handelt.

Entschädigt wird der Besucher allerdings durch eine seriös gestaltete Aufarbeitung, die größtenteils auf dem aktuellen Forschungsstand beruht. Ergänzt durch eine kurze historische Einführung sind neben Devotionalien von Lagerleitung, Aufsichtspersonal und Häftlingen wie der Uniformjacke des Lagerkommandanten Alexej Kostjuchin unter anderem ein Kassiber des Häftlings Rudolf Witzleben und ein Originaltagebuch des Häftlings Günter Sack zu besichtigen, welches dieser bei der Deportation in die Sowjetunion in ein kleines Päckchen gehüllt aus dem Zug warf - eines der wenigen erhalten gebliebenen Originalzeugnisse über das Leben im Speziallager.

Der Hauptteil der Ausstellung besteht aus exemplarisch aufgeführten Biographien, die als Beispiel für viele Insassen des Lagers dienen können. Es ist erfreulich, daß hierbei nicht die bekannten prominenten Insassen wie Heinrich George oder Herbert Furtwängler im Mittelpunkt stehen, sondern weniger bekannte Zeitgenossen, an denen sich die unterschiedlichsten Gründe für die Gefangenschaft widerspiegeln: Sie reichen von verhältnismäßig stichhaltigenVorwürfen wie dem freiwilligen Eintritt in die Russische Befreiungsarmee Wlassows, der Förderung der Tötung von Geisteskranken oder dem Einsatz als "Greifer" der Gestapo bis zu den bekannten schwammigen und dehnbaren Formulierungen wie dem Werwolf-Verdacht, "antisowjetischer Agitation", der Annahme untergeordneter lokaler Funktionen im NS-Staat, Offiziers- oder Unteroffiziersfunktionen in der Deutschen Wehrmacht, angeblichen oder tatsächlichen Waffenbesitz oder Spionage. Anhand von Dokumenten, Bildern und biographischen Angaben werden die Schicksale der Insassen in das Licht der Öffentlichkeit gerückt und dadurch lebendig.

Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen, daß die noch heute kursierende Schutzbehauptung, die Insassen wären in der Mehrzahl hochrangige NS-Funktionäre und Kriegsverbrecher gewesen, jeder Grundlage entbehrt. Als ein besonders tragisches Häftlingsschicksal, das jedoch keineswegs einen Einzelfall darstellt, sei hier lediglich auf den Stellwerkmeister Hermann Junge hingewiesen, der von 1930 bis 1946 im Stellwerk Mitte in Dresden seine Arbeit verrichtete. Am 19. Juni 1946 wurde Junge nach einem nächtlichen Zugunglück vom NKWD verhaftet. Während der Nachtschicht hatte er unwissentlich Weichen falsch gestellt, so daß zwei Güterzüge zusammenprallten. Dabei entstand Materialschaden, Menschen wurden nicht verletzt. Da jedoch mit einem der beiden Züge Reparationsgüter aus Deutschland in die Sowjetunion befördert werden sollten, wurde Junge trotz einwandfreiem Leumundszeugnis von Vorgesetzten und Kollegen von einem sowjetischen Militärtribunal zu vier Jahren Haft verurteilt. Am 17. Mai 1949 verstarb Junge in Sachsenhausen.

Insgesamt kamen von etwa 60.000 Insassen des SowjetischenSpeziallagers Nr. 7 (ab 1948: Nr. 1), so die offizielle Bezeichnung des NKWD-Lagers Sachsenhausen, von August 1945 bis zur Auflösung im März 1950, circa 12.000, das heißt jeder fünfte, aufgrund von Hunger, Seuchen, unzureichender medizinischer Betreuung und nicht zuletzt nahezu unmenschlich anmutenden Mißhandlungen durch das Lagerpersonal ums Leben. Die Lagerverwaltung oblag dem sowjetischen Geheimdienst. Aufseher waren meist einfache Soldaten und Unteroffiziere der Roten Armee, die durch ihre praktische Internierung (sie hatten kaum Möglichkeiten, Urlaub zu bekommen oder das Lager zu verlassen) schnell zu Trink- und in deren Folge zu Gewaltexzessen neigten. Auch hier werden konkrete Beispiele angeführt, ohne zu pauschalisieren.

Der guten inhaltlichen Darstellung stehen allerdings gravierende museumspädagogische Mängel gegenüber: So gibt zu denken, daß - im Gegensatz zu anderen Ausstellungsteilen - nicht an Sitzmöglichkeiten gedacht wurde, was neben der doch erheblichen Entfernung vom Lagereingang vor allem ältere Besucher eher abschrecken dürfte. Die Beschriftungen der Objekte sind teilweise sehr klein und nicht immer berührungsresistent. Um alle Inschriften lesen zu können, muß sich der Betrachter weit über die sich unter Glas befindlichen Objekte lehnen - ein ebenfalls für ältere Interessenten nicht unwesentliches Hindernis.

Über die häufige Verwendung von Rundfunk- und Filmbeispielen in der Ausstellung läßt sich streiten - teilweise sind sie zum besseren Verständnis der zeitgeschichtlichen Situation, der zeitgenössischen Darstellung des Speziallagers in Ost und West und nicht zuletzt für jüngere, stark bildorientierte Besucher sinnvoll. Andererseits ergibt sich die Frage, ob einige Beispiele besonders zynischer DDR-Propaganda tatsächlich angeführt werden müssen oder nciht besser durch Berichte und Äußerungen ehemaliger Häftlinge ersetzt werden könnten. Nachdenklich stimmt auch, daß ein geplanter Katalog zur Ausstellung bis heute nicht erschienen ist, wogegen sich Publikationen zur NS-Geschichte des Lagers in der nahe dem Eingang gelegenen Verkaufsstelle förmlich türmen.

Äußerst interessant ist eine Wandtafel, die Angehörige von Gefangenen auch heute noch zur Suche nach vermißten Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten nutzen können. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist sie gut gefüllt und legt ein ebenso beredtes Zeugnis von Menschenschicksalen ab wie die persönlichen Erinnerungsstücke der biographisch Erwähnten. Mancher ehemalige Häftling hat diesen Ort auch mit seinen eigenen Erinnerungen zum Besuch der Ausstellung versehen. So beschreibt beispielsweise Wolfgang Völzke, der heute in Sindelfingen lebt, seine Eindrücke folgendermaßen: "Man will uns verstecken, aber wir müssen uns nicht verstecken. Wir waren Opfer der alten Menschheitsfrage: Darf ein Sieger, der Unrecht und Unmenschlichkeit erlitten hat, dem Besiegten mit gleicher Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit begegnen? (...) Aus falscher Scham und politischer Berechnung heraus möchte man das Leid verschweigen, das uns willkürlich nach Kriegsende zugefügt wurde, von jenen, die Deutschland besiegt hatten und eine bessere Weltordnung verkündeten ..." Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen.

Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen: Straße der Nationen 22, 16515 Oranienburg. Tel. 0 33 01/ 80 37 15/16/17. Täglich außer montags 8.30 bis 18 Uhr.

Fototext: Hinweistafel im Schmachtenhagener Forst: Jeder Fünfte der etwa 60.000 Lagerinsassen kam ums Leben


 
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