© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002

 
Auf das Erdbeben folgt Hysterie
Frankreich: Die "pluralistische Linke" bläst wegen Le Pen zur allgemeinen Mobilmachung für Präsident Chirac
Charles Brant

Die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen hat Frankreich in Aufruhr versetzt. Fast die gesamte Linke mobilisiert all ihre Kräfte für den "rechten" Jacques Chirac, der über Nacht zur einzigen Hoffnung der Fünften Republik geworden ist. Die Krise des politischen Systems ist offensichtlich.

Nach der bösen Überraschung vom 21. April brach bei Sozialisten, Kommunisten, Radikalen und Grünen das große Heulen und Zähneklappern aus. Ihre Wut verlegte sich schnell auf die Straße, und Tag für Tag marschierten junge Studenten und Schüler durch die Straßen aller größeren Städte. Die Demonstranten verglichen Le Pen auf ihren Plakaten mit Hitler und skandierten: "Wir stammen alle von Einwanderern ab!" Diese "spontanen" Kundgebungen erinnerten verdächtig an Bilder aus Maos China oder Ceausescus Rumänien. In den Amphitheatern, die zu "politischen Werkstätten" geworden waren, paukten die politischen Kommissare ihren Adepten die Grundkenntnisse und Rituale des Antifaschismus ein.

Das Waterloo des sozialistischen Premiers Lionel Jospin hat die Linke schier zur Weißglut getrieben. Statt demokratische Realitäten anzuerkennen und sich Gedanken über die Bedeutung dieser historischen Niederlage zu machen, stürzt man sich blindlings in einen Kreuzzug gegen Le Pen. Jospin selbst ist der einzige, der sich nicht an dieser allgemeinen Mobilmachung für Chirac beteiligt. So mancher Politiker, der Chirac gestern noch für seine Rolle in den "Bimbesaffären" vor Gericht zerren wollte, hat sich plötzlich zu seinem treuen Anhänger gemausert. Die Stichwahl am kommenden Sonntag hat eher den Anschein eines Zauberkunststücks als einer Volksabstimmung.

In der Folge der Niederlage hat die Führung der Parti Socialiste (PS) sich sofort darum bemüht, die gemeinsame Front wiederherzustellen und der "pluralistischen Linken" neues Leben einzuhauchen. Ein ähnlich katastrophales Ergebnis bei den Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni kann sie sich nicht leisten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Altkommunisten (PCF) unter Robert Hue hatten einen historischen Tiefstand zu verzeichnen und müssen um Spenden betteln, um ihren Wahlkampf bezahlen zu können. Und die extreme Linke tanzt nach wie vor aus der Reihe: Die Trotzkisten Arlette Laguiller und Alain Besancenot, die zusammen zehn Prozent der Stimmen erzielten, weigern sich, zur Wahl Chiracs aufzurufen.

In Jean-Pierre Chevènements linksnationaler Partei Mouvement des Citoyens (MDC) ist die Zwietracht, die schon vor der ersten Wahlrunde schwelte, vollends ausgebrochen. Der rechte Flügel, der auf der Linie von Charles Pasquas rechtsgaullistischer RPF liegt, weigerte sich, die Anweisung, für Chirac zu stimmen, zu unterschreiben.

Doch bis auf wenige Ausnahmen ist die politische Klasse ganz von der Hysterie ihres Hasses auf Le Pen ergriffen. Diese Hysterie wächst, je mehr Stimmen in den Chor einstimmen. Nicht nur Gewerkschaften und Unternehmerverbände, auch Freimaurer, Bischöfe, die Jüdische Gemeinde und Fußballer wie Zinedine Zidane haben sich zu Wort gemeldet. Serge Moscovici, Psychosoziologe und Vater von PS-Europaminister Pierre Moscovici, verbreitet sich in der Pariser Zeitung Le Monde über die beunruhigenden Parallelen, die er zu seiner Jugend in Rumänien sieht. Die Manifeste sprießen wie Unkraut aus dem Boden. Chirac und seine Gefolgschaft beschwören das "republikanische" Modell", das sich auf die jakobinische Ideologie beruft. Der grüne EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit hat sich mit den Philosophen Bernard Henri Lévy und André Glucksmann zusammengetan, um seinen Lesern mitzuteilen, die Stimmabgabe für Chirac stelle ein "immenses Plebiszit für die Demokratie" dar.

Chirac kann diese Dramatisierung nur recht sein. Trotz seines schlechten Ergebnisses von unter 20 Prozent berappelte er sich schnell und nutzte die Welle der Unterstützung, die ihm so unverhofft entgegenschwappte. Buchstäblich über Nacht war er zum "Verteidiger der Republik" geworden, der "gegen Rassismus und Intoleranz" antrat. Nach langer Überlegung verkündete er seinen noblen Entschluß, auf das traditionelle Fernsehduell mit seinem Kontrahenten zu verzichten. Seine neuen Freunde von der Linken applaudierten. Derselbe Mann, den Jospin Lügner und Betrüger nannte, hat sich auf wundersame Weise zum Hüter der republikanischen Tugend und Moral gewandelt. Paradox wird es, wenn man den Überlegungen Benjamin Storas in Le Monde glaubt. Der Professor für maghrebinische Geschichte am Institut für orientalische Sprachen und Zivilisation wies darauf hin, daß Le Pen selbst unter den ethnischen Minderheiten Wähler fand.

Chirac dringt währenddessen auf die Bildung einer politischen Formation, die ihm bei den kommenden Parlamentswahlen endlich wieder eine Mehrheit im Parlament sichert - und die ungeliebte Kohabitation mit einem linken Premier beendet. So initiierte er die Union pour la majorité présidentielle (UMP). Trotz der Bedenken der RPR-Chefin Michèle Alliot-Marie - und ohne die Unterstützung des Liberaldemokraten-Chefs Alain Madelin und des UDF-Vorsitzenden François Bayrou - stellt sich die UMP als Mitte-Rechts-Bündnis dar. Bayrou, am 21. April immerhin Viertplazierter vor Chevènement und Madelin, hat verständlicherweise wenig Interesse daran, in einer Chirac-"Einheitspartei" zu verschwinden. Mit seinen Parteifreunden hofft er auf eine Wachablösung und damit auf die Möglichkeit, Reformen in Richtung einer Dezentralisierung durchzusetzen, die Chirac seit Jahren abblockt.

Und was macht der Volkstribun Le Pen selber? Er kostet diesen Sieg aus, der sein Abgesang zu werden droht. Doch sein alter Traum hat sich endlich erfüllt! Dem System begegnet er mit der Aura des weißen Ritters und mit seinem eigenen Charisma. Sein Ton ist sehr viel heiterer geworden. Als Präsident würde er eine "Republik der Volksentscheide" schaffen, die Einkommensteuer abschaffen und Frankreich aus der Maastricht-EU befreien. Le Pen will den Franc, Zollschranken und die Todesstrafe wieder einführen, 200.000 neue Gefängniszellen bauen, illegale Einwanderer abschieben und Abtreibungen verbieten.

Le Pens Wahlerfolg kann jedoch nicht über seine politische Vereinsamung hinwegtäuschen. Außerhalb seiner Familie und der "alten Garde" des Front National kann er sich auf niemanden verlassen. Die Abspaltung des MNR hat ihn schwer getroffen - auch wenn FN-Dissident Bruno Mégret dazu aufgerufen hat, ihn bei der Stichwahl zu unterstützen, und es im Elsaß einzelne Solidaritätskundgebungen gegeben hat.

Die gebeutelten Wahlforscher wagen keine Prognose, Schätzungen variieren zwischen 13 und über 40 Prozent, die Le Pen der "republikanischen Front" abtrotzen kann. Die Angst, als "Faschist" gebrandmarkt zu werden, ist einfach zu groß, als daß sich viele Wähler im voraus öffentlich zu Le Pen bekennen würden. Der französische Geheimdienst Renseignements Généraux (RG), der in allen Departements über genaue "Meinungsbarometer" verfügt, soll ein Gerücht lanciert haben, wonach Le Pen 42 Prozent zugetraut werden. Doch vermutlich sollen so nur die Le Pen-Gegner zur Stichwahl motiviert werden.

Sollte Chirac die Wahl haushoch gewinnen, dann nur mit Hilfe "linker" Stimmen. Der Mann, der die bürgerliche Rechte nie geliebt hat und für eine "französische Labour-Partei" stehen wollte, hätte seinen Jugendtraum wahrgemacht. Darüber hinaus wäre er der Präsident mit dem fragwürdigsten Wahlergebnis aller Zeiten - ein Präsident, den seine politischen Gegner nicht etwa gewählt haben, weil sie seine Ziele unterstützen, sondern weil sie Le Pen ablehnen. Das Amt des Präsidenten wird dadurch weiter geschwächt, zumal eine neuerliche Kohabitation nach den Parlamentswahlen keineswegs auszuschließen ist. Die politische Krise, die am 21. April offensichtlich geworden ist, hat gerade erst begonnen.


 
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