© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Wir sind alle Fruchtfliegen
Ein Versuchstier führt durch sein Labor
Angelika Willig

Nicht nur in der Belletristik, auch beim Sachbuch verschwinden die Grenzen zwischen E und U. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist Martin Brookes' "Erfolgsgeschichte der Fruchtfliege" mit dem Titel "Drosophila". Was kann an einer winzigen Fliege interessant sein, die ihre Nahrung aus vergammeltem Obst saugt und sich dort massenhaft vermehrt? Das dachte Brookes auch und wünschte sich als Dissertationsthema "richtige Tiere" mit Fell oder Federn. Ein paar Jahre später mußte er neidisch beobachten, wie alle Erfolge von den Kollegen ausgingen, die mit der unscheinbaren Fruchtfliege gearbeitet hatten. Und das ist nicht erst seit heute so.

Um es gleich zu sagen: Die Frucht- oder Obstfliege ist die Graugans der Genetik. Sie schwirrt sozusagen um den letzten Apfel herum, den wir vom Baum der Erkenntnis noch pflücken müssen, um Gott ernsthaft Konkurrenz zu machen. Alles fing an, als Thomas Hunt Morgan im Jahre 1910 an der Columbia Universität in New York ein Fliegenkind mit weißen Augen entdeckte. Die rotäugigen Eltern waren genauso erstaunt wie der Zoologe. Dem fiel ein einsamer Mönch aus Österreich ein, Gregor Mendel, der mit seiner Erbsenzählerei vielleicht recht gehabt hatte. Es gibt eine Gesetzmäßigkeit in der Vererbung. Doch die ist verborgen. Das Geschehen spielt sich wie hinter einem dicken Vorhang ab, und nur was fertig ist, betritt die Bühne. Wir dürfen bloß zusehen und applaudieren. Der Mensch aber will wissen, und wenn er weiß, dann will er machen. Überraschungen wie die mit dem weißen Auge wollte Morgan sich auf die Dauer nicht bieten lassen. Mit nachhaltiger Energie gelang es ihm in den folgenden Jahren, die vorher nur vage Vermutung von Chromosomen, fadenähnlichen Strukturen im Zellkern, als materieller Basis der Vererbung bei der Fruchtfliege nachzuweisen. Er erkannte weiter, daß jedes dieser Chromosomen aus einer Auflistung chemisch verschlüsselter Informationen besteht, den sogenannten Genen. Um nun herauszufinden, was die einzelnen Gene bedeuten, setzte er seine Fliegen extremen Umweltbedingungen aus. Er spritzte Säuren in ihre Keimdrüsen, steckte sie in Öfen und Kühlschränke oder applizierte Röntgenstrahlen. Ziel war die Entstehung möglichst vieler Mutanten. Die Biologie hatte aufgehört, bloß die Natur zu beobachten, sondern zwang sie durch experimentelle Eingriffe, den Fragestellungen des Menschen gemäß zu agieren. Trägt ein Mutant das Bein am Kopf statt am Rumpf, läßt sich im Vergleich mit gesundem Erbgut das zuständige Gen lokalisieren. So entstanden die ersten "Gen-Karten".

Resultate wie diese wurden nicht etwa in einem blitzenden Großlabor gewonnen. Anfangs mit nur einem Assistenten arbeitete der Wissenschaftler in dem später legendären "Fliegenraum". Wie es dort aussah, umschreibt Brookes so: "Sollte es die Absicht gewesen sein, die Atmosphäre der natürlichen Umgebung der Fruchtfliege - nämlich die Mülltonne - zu simulieren, damit sie sich ganz heimisch fühlen konnte, dann funktionierte der Fliegenraum prächtig." In dieser Hexenküche wurden mehr als hundert Mutanten entwickelt, von denen "Weißauge" der bei weitem harmloseste blieb. Brookes führt uns die "Freak Show" in einem gesonderten Anhang vor: Der "Shaker" zuckt und schüttelt sich beim Fliegen, der "Dackel" besitzt nur Stummelbeine, der "Adler" streckt seine Flügel im rechten Winkel zum Körper, und dem "Zinkenkopf" wächst der Kopf etwa dort, wo der Darm sein müßte. Klar, daß diesen Improvisationen auch für Fliegenverhältnisse kein langes Leben beschieden war. Aus dem "Fliegenraum" drangen unerhörte Nachrichten in die Welt, und Thomas Morgan war bald nicht mehr der einzige mit seiner Vorliebe für Drosophila melanogaster.

Warum die Fruchtfliege? Stellen wir uns vor, es gäbe keine Ethik-Kommissionen, und die moderne Genetik hätte gleich von Anfang an mit Menschen experimentiert. Setzen wir also zwei von unserer Spezies in einen Käfig, männlich der eine, weiblich die andere, und warten darauf, daß sich Nachwuchs einstellt. Da können wir manchmal lange warten. Ein Fruchtfliegen-Pärchen hingegen bringt innerhalb von vierzehn Tagen leicht zweihundert Nachkommen hervor. Was den Partner angeht, sind Fliegen alles andere als wählerisch. "Drosophila", erklärt Brookes, "macht genau das, was andere Tiere tun, nur schneller und billiger." Der Mensch, ließe sich ergänzen, macht genau das, was andere Tiere tun, nur langsamer und teurer. Wenn das keine gute Zusammenarbeit garantiert.

Wie hatten sich Loriot und andere über den Biologen-Altmeister Grzimek lustig gemacht, der bei Dachsen von "putzigen Kerlchen" und deren "friedlichem Behagen" beim Aufsuchen der Höhle sprach. Nur dem Fernsehzuschauer zuliebe, denn Biologen - so glaubten wir - stehen ihrem Forschungsgegenstand rein sachlich gegenüber. Das ist offenbar ein Irrtum.

Eine neue Generation von Wissenschaftsjournalisten amüsiert sich bei der Schilderung unserer tierischen Verwandten umso mehr, wenn es sich nicht um "richtige Tiere" handelt, sondern um abstruse Winzlinge, die erst bei näherer Betrachtung ihre Familienzugehörigkeit erweisen. Brookes betont die "Universalität" des genetischen Codes als fundamentale Entdeckung. Sie ist wohl auch der Grund für die neue biologische Frivolität. Die eigene Verwandtschaft mit dem Affen hatte für viele Menschen etwas Erschütterndes oder Entsetzliches gehabt, bei der Fruchtfliege ist sie nur noch mit Humor zu ertragen.

In den dreißiger Jahren wurde die Genetik erstmals Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Stalin hatte Grund, sie zu zensieren, und der junge Biologe Theodosius Dobzhansky fand über ein Rockefeller-Stipendium seine Zuflucht im "Fliegenraum". Bald erwies er sich dort als Ketzer und tauschte die verdienstvolle Drosophila melanogaster (die mit dem dunklen Fleck) gegen die Drosophila pseudoobscura aus, eine wilde Fruchtfliegenart. Offensichtlich hatte er vor, das Labor seines Meisters zu verlassen und die Fliegenerotik in der freien Natur zu erproben. Die Evolution hat schließlich auch nicht im Labor stattgefunden. Dobzhanskys Gedanke war, am handlichen Beispiel die Entstehung der Arten wie im Zeitraffer nachzustellen. Aus geographisch abgegrenzten Populationen derselben Art, so zeigte er, können bei entsprechendem Selektionsdruck innerhalb gar nicht langer Zeit neue Arten entstehen.

Das Kapitel über Seymour Benzer und die "springenden Gene" ist mit Vorsicht zu genießen. Benzer "trainiert" die Fliegen mit Hilfe von Geruchsmarken und Elektroschocks und unterscheidet deutlich ein Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis in ihren winzigen Hirnen. Nun geht es darum, Mutanten herzustellen, die sich in ihrem Verhalten, speziell der Lernfähigkeit unterscheiden. Da die Umgebung in einem Labor ohne Schwierigkeiten stabil zu halten ist, kann eine Leistungssteigerung des Tieres nur auf das veränderte Genom zurückzuführen sein. Quod erat demonstrandum: Intelligenz ist erblich. Unser Autor verliert bei diesem hochbrisanten Thema beinahe seine eiskalte Profi-Haltung und spricht von einer "aufregenden und womöglich erschreckenden Zukunft". Gemeint ist hier die Zukunft des Menschen, denn aufregender und erschreckender als ihre Vergangenheit als Versuchstier kann die Zukunft der Fruchtfliege kaum werden.

Oder doch? Eben erst angefangen hat die Karriere von Fliegen aller Art in der Gerichtsmedizin. "Maggots, Murder and Men" von Zakaria Erzinclioglu, in New York erschienen, beschreibt die "forensische Entomologie" als Methode, aus dem Vorkommen bestimmter Insekten im Körper von Mordopfern Schlüsse auf Ort und Zeit des Verbrechens zu ziehen.

Was ist nur mit den Menschen los? Woher das plötzliche Interesse für Insekten? Wir Jünger-Leser wissen es seit langem: Weil das Insekt als solches keine Spur von Individualität hat. Wenn es ausscheren soll, muß man es schon mutieren lassen. 

Fototext: Drosophila melanogaster: Versuchskaninchen mit sechs Beinen

Martin Brookes: Drosophila. Die Erfolgsgeschichte der Fruchtfliege. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002, geb., 253 Seiten, 22,90 Euro


 
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