© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Kolumne
Macht der Doktrin
Klaus Motschmann

Anlaß für die heutige Betrachtung war die Begegnung mit einem alten Studienfreund in einem Berliner Archiv. Seit Stunden war er auf der Suche nach einem bestimmten Artikel, dessen Aussagen in einer entscheidenden Auseinandersetzung seines Kollegiums schlichtweg bestritten wurden. Er war fest davon überzeugt, daß selbst seine schärfsten Kontrahenten ihre Einstellung ändern würden, wenn er den Artikel nicht nur singemäß, sondern im Wortlaut zitieren könnte. Verständigung auf dieser Basis müßte doch möglich sein!?

Ein Anruf wenige Tage später bestätigte alle Erfahrungen aus der "Streitkultur" unserer Tage, daß sich ideologisierte Gruppen durch noch so überzeugende Tatsachen und offenkundige Widersprüche nicht von der Fixierung auf eine bestimmte Idee abbringen lassen. Wenn die Wirklichkeit der Idee widerspricht, so ist das nach einem ehernen Grundsatz aller Ideologen um so schlimmer für die Realität und keinesfalls Anlaß für Zweifel an der "Wahrheit" der Idee, zumindest nicht für öffentlich geäußerte. Nietzsche hat es auf den Punkt gebracht: "Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, gesetzt, er hätte ihn nötig, er würde ihn immer wieder für 'wahr' halten."

Berücksichtigung widersprüchlicher Tatsachen wäre ein offenkundiges Eingeständnis der Irrtumsfähigkeit eines ideologisch ausgerichteten Kollektivs und ein Bekenntnis zum sogenannten Objektivismus. "Objektivismus" ist jedoch ein methodisches Prinzip der "bürgerlichen Ideologie" und als solches unvereinbar mit dem methodischen Prinzip der "Parteilichkeit" des Denkens und Handels, für das uns die Tagespresse laufend neue Beispiele liefert.

Wer also in guter Tradition der Aufklärung noch immer "den Mut hat, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen", setzt sich in zunehmendem Maße erheblichen, oft genug laufbahnschädigenden Verdächtigungen aus. Er verstößt - bewußt oder unbewußt - gegen die jeweils gültigen "Generallinien", gleichgültig, welches Zentralkomitee, welcher Parteitag oder welcher Kirchentag sie auch vorschreibt und kontrolliert. Das ist im günstigsten Falle der Beurteilung "unanständig", wie uns von maßgeblichen "Linienrichtern" in wichtigen Zusammenhängen erklärt wird. Es kommt also in Erziehung und öffentlicher Meinungsbildung nicht auf die Fähigkeit zu eigener Gedanken-Reflexion über die uns umgebende Wirklichkeit an, sondern auf die Fähigkeit, Pawlow-Reflexe auszubilden und allein darauf zu reagieren - jedenfalls für die "Anständigen".

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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