© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Ungestrafter Massenmord
Über die Ohmacht der zivilisierten Welt gegenüber "ethnischen Säuberungen"
Carl Gustaf Ströhm

Es war das größte Massaker an wehrlosen Gefangenen seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa: im Juli 1995 stürmten und eroberten serbische Truppen die (damals) von Moslems bewohnte Stadt Srebrenica im Osten Bosniens. Sie war zur sogenannten Uno-Schutzzone erklärt worden. Der französische General Morillon hatte bereits 1993 den Bewohnern, deren Stadt wie ein Balkon weit ins serbisch besetzte Gebiet hineinragte, versichert, es werde ihnen unter dem Schutz der "Unprofor" - der internationalen Schutztruppe der Vereinten Nationen - nichts geschehen.

Als die Serben unter dem Kommando des jetzt als Kriegsverbrecher gesuchten und untergetauchten General Ratko Mladic ohne Rücksicht auf Uno und Weltmeinung gegen Srebrenica losmarschierten, war der Schutz der Stadt dem niederländischen Bataillon ("Dutchbat") anvertraut. Die von den Serben eingeschüchterten Niederländer sahen tatenlos zu, wie ihre "Schutzzone" von den Serben überrannt wurde. Niederländische Offiziere prosteten den Eroberern mit Slivovitz zu - und ihre Soldaten halfen bei der "ethnischen Säuberung", indem sie die Verfrachtung von Alten, Frauen und Kindern in Autobusse organisierten.

Abseits etwaiger westlicher Zeugen und Fernsehkameras, vollzog die bosnisch-serbische Armee eine seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesene Massenexekution an achttausend moslemischen Männern, meist Angehörige der bosnisch-moslemischen Armee. Es waren aber unter den Opfern auch viele Zivilisten, Greise und halbwüchsige Knaben.

Auf den Niederlanden wie auf dem Westen insgesamt lastet seither die Tatsache, daß in Europa politisch-ethnischer Massenmord und Massenvertreibung wieder ungestraft praktiziert werden konnten. Doch jetzt, sieben Jahre danach, mußte als Konsequenz aus dem Versagen der holländischen Dutchbat-Soldaten in Srebrenica die Regierung in den Haag zurücktreten.

Dabei war Srebrenica nur der Höhepunkt eines weltgeschichtlichen Konflikts im zerrissenen Bosnien. Die westeuropäischen und amerikanischen politischen Entscheidungsträger hatten (und haben zum Teil bis heute) das Wesen und die Tiefe dieses Konflikts nicht begriffen. Unter der Tünche von Titos jugoslawischen Kommunismus hatten sich nationale und zugleich religiöse Haßkomplexe aufgestaut. Die Serben als zahlenstärkste Nation Jugoslawiens, die zugleich auch die Armee beherrschten, wollten sich mit dem Zerfall des Gesamtstaates nicht abfinden, der für eine breite serbische Schicht auch große Privilegien mit sich brachte.

Hatte Belgrad sich mit der Abspaltung Sloweniens nach einem "Siebentage-Krieg" im Sommer 1991 noch abgefunden, so wollten die "Groß-Serben" Kroatien und Bosnien keinesfalls ziehen lassen. Für die orthodoxen (also zur Ostkirche gehörenden) Serben waren schon die katholischen, nach Westen orientierten - und dazu noch historisch mit Deutschland verbundenen Kroaten - schwer zu ertragende "Verräter" an der jugoslawischen (groß-serbischen) Idee. Die slawischen Moslems in Bosnien, die sich während der türkischen und osmanischen Herrschaft hatten islamisieren lassen, galten aber in serbischer Sicht als das Letzte an Verrat und Nichtswürdigkeit.

Schon zu Anfang des bosnischen Krieges, der im April 1992 ausbrach, kurz nachdem Moslems und Kroaten in einer Volksabstimmung für die Eigenstaatlichkeit und Souveränität Bosnien-Herzegowinas votiert hatten, ereignete sich ein bezeichnender Zwischenfall: Der stellvertretende moslemische Ministerpräsident Turajlic sollte in einem Schützenpanzerwagen der französischen Uno-Truppen zum Flughafen gebracht werden. Unterwegs wurde der französische Panzer von serbischem Militär angehalten. Die Serben forderten die Auslieferung von Turajlic. Es begannen "Verhandlungen" zwischen serbischen und französischen Offizieren, während der bosnisch-moslemische Politiker im Panzer ausharrte. Nach einiger Zeit zog einer der serbischen Militärs seine Pistole, trat an die geöffnete Luke des Panzers - und erschoß Turajlic vor den Augen der französischen Offiziere. Daraufhin geschah - nichts. Außer einigen matten Protesten und rasch vergessenem Entsetzen gab es keine westlichen Reaktionen. Dieses westliche Versagen speist sich aus zwei Quellen: Zum einen genossen (und genießen) die Serben als "historische Verbündete" des Westens im Kampf gegen Deutschland und Österreich-Ungarn noch immer Sympathien bei Briten, Franzosen und manchen Amerikanern. Und zweitens baut der Westen seine Bosnien-Politik auf der irrealen Prämisse des "friedlichen Zusammenlebens" verschiedener Nationen, Kulturen, Religionen und Zivilisationen in diesem Raum auf. Man will nicht zur Kenntnis nehmen, daß dieses Zusammenleben an der Bruchstelle von Ost und West, Katholizismus und Orthodoxie, Christentum und Islam stets prekär und meist von stärkeren Hegemonialmächten (Osmanen, Österreicher) erzwungen war.

Heute beruht die augenblickliche "Ruhe" in Bosnien auf einer Fiktion: der Westen lügt sich in die eigene Tasche (wie übrigens im Nahen Osten oder in Afghanistan), legt sich ein geschöntes Bild der Serben zurecht und will partout nicht erkennen, daß der bosnische Islam kein manipulierbarer "Euro-Islam" ist. Für bosnische Moslems wird die Straße nach Kairo, Riad, Teheran und Mekka stets kürzer sein als jene nach Brüssel.


 
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