© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   18/02 26. April 2002


Denkzettel des Volkes
In Frankreich haben die Wähler vor allem der politischen Klasse eine Abfuhr erteilt
Alain de Benoist

Erdbeben", "Erschütterung der politischen Landschaft", "Erdrutsch": Sämtliche Kommentatoren behelfen sich mit denselben Floskeln, um das Ergebnis der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen zu beschreiben. In Wirklichkeit waren die Fernsehzuschauer Augenzeugen des Untergangs einer ganzen politischen Klasse, als im Laufe des Sonntagabends immer klarer wurde, daß es Jean-Marie Le Pen gelungen ist, Lionel Jospin zu überrunden und Jacques Chirac an den Fersen zu bleiben.

Seitdem wird Frankreich, das sich normalerweise die Zeit damit vertreibt, andere Länder moralisch zu belehren, seinerseits von Zweifeln geschüttelt. Das eigentlich Erstaunliche aber ist das Erstaunen der Beobachter - denn was hier passiert ist, war in vieler Hinsicht voraussehbar.

Seit Jahren schon ist ein steigender Wähleranteil allergisch gegen die politische Klasse, die sich immer weiter von den Alltagssorgen der Franzosen entfernte. Man wurde das Gefühl nicht los, rechte und linke Regierungsmannschaften wechselten einander ab, ohne eine grundlegend unterschiedliche Politik zu machen. Die "Kohabitation" des gaullistischen Präsidenten Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Jospin verstärkte diesen Eindruck nur. Rechts und Links sind austauschbar geworden. Um so deutlicher treten neue Differenzierungen hervor, wie die Meinungsumfragen der letzten Monate bezeugen.

Ganze 75 Prozent der Franzosen sahen kaum Unterschiede zwischen den politischen Programmen Chiracs und Jospins. 56 Prozent der Wähler hatten wenig oder gar kein Interesse an den Präsidentschaftswahlen. Sechs von zehn Franzosen meinen, die Unterscheidung zwischen Rechts und Links gehöre der Vergangenheit an. Der Anteil der Franzosen, die sich selbst als "weder rechts noch links" einordnen würden, ist seit 1995 von 19 auf 45 Prozent angeschwollen.

Der große Verlierer ist Jospin, der nach Bekanntwerden seines Wahlergebnisses umgehend seinen Rückzug aus der Politik ankündigte. Der Premierminister, eine ehrliche Haut ohne einen Funken Charisma, hatte von Anfang an erklärt, er werde keinen "sozialistischen" Wahlkampf führen. Damit machte er sich nicht beliebter bei einer Linken, die ihn sowieso schon eines Vegessens der eigenen Ideale bezichtigte. Auf der Linken hat sich somit ein politisches Vakuum aufgetan.

Doch ist Jospins Fall keineswegs das einzige Anzeichen eines "extremen Zerfalls des politischen Systems", wie ihn Chevènement beschrieben hat.

Die beiden Hauptkandidaten der französischen Präsidentschaftswahlen von 1988, François Mitterrand und Jacques Chirac, erhielten in der ersten Runde zusammen 54,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Diesmal brachten Chirac und Jospin es gerade einmal auf 35,6 Prozent. Rechnet man das Ergebnis seines Konkurrenten Bruno Mégret zu Le Pens 17 Prozent hinzu, konnte die radikale Rechte mit Chirac zumindest gleichziehen. Dessen Ergebnis von 19,6 Prozent ist das schlechteste, das ein amtierender Präsident jemals erzielte.

Wenn man dazu noch bedenkt, daß 28 Prozent der Wahlberechtigten den Urnen fernblieben (1995 waren es 21,6 Prozent) und nicht wenige ihre Stimmen an Kandidaten verschenkten, die keinerlei Chance hatten, gewählt zu werden, wird offensichtlich: Jeder vierte Franzose stimmte gegen das "System"; die Regierungsparteien repräsentieren mittlerweile nicht einmal ein Drittel aller Wähler.

Eine detaillierte Analyse des Ergebnisses zeigt, daß Le Pen vor allem von Angestellten gewählt wurde (23 Prozent stimmten für ihn), und daß er bei Frauen (19 Prozent) beliebter war als bei Männern (16 Prozent). Großen Erfolg konnte er auch unter der Arbeiterschaft verbuchen sowie allgemein in jenen Bevölkerungsschichten, die Tag für Tag unter den Folgen der massiven, unkontrollierten Einwanderung zu leiden haben. Zu den 25 Départements, in denen Le Pen ganz vorne lag, gehörte auch Nord-Pas-de-Calais, traditionell eine Bastion der Linken. In manchen Regionen, darunter das Elsaß und die Gegend um Nizza, brachte Le Pen es auf bis zu 25 Prozent der Stimmen, in Carpentras gar auf 30 Prozent.

Von der zweiten Wahlrunde sind keine Überraschungen zu erwarten. Zweifellos wird Chirac am 5. Mai die Wahl für sich entscheiden. Aber sein Sieg wird paradox und bitter sein: Letztlich wird der Staatschef seine Wiederwahl einem Mann zu verdanken haben, den er verachtet (und der seine Verachtung erwidert).

Die Linke hat zu verstehen gegeben, daß sie widerwillig, aber mehrheitlich für Chirac stimmen wird. "Ein Korrupter ist immer noch besser als ein Faschist!", erklärte einer ihrer Vertreter am Wahlabend. Dadurch verschlimmert sie nur eine Verwirrung, der sie am Ende selbst zum Opfer fallen wird, und leistet Le Pen indirekt Beihilfe. Der hat nämlich schon immer gesagt, daß die Opposition zwischen den etablierten Parteien der Rechten und Linken eine Fiktion ist. Die Gunst der Stunde nutzend, um möglichst viele Wählersympathien auf sich zu versammeln, verkündete er: "In sozialen Fragen bin ich auf der Seite der Linken, in wirtschaftlichen Fragen auf der Seite der Rechten, und in nationalen Fragen auf der Seite Frankreichs!"

Eine unmittelbare Folge von Le Pens Erfolg wird eine erneute Welle "antifaschistischer" Aktivitäten sein. Verschiedene linke Parteien haben schon angekündigt, am 1. Mai eine Massendemonstration zu veranstalten, um darauf aufmerksam zu machen, daß wieder einmal die "Demokratie in Gefahr" ist - eine "Gefahr", die bislang jedesmal das Ergebnis eines demokratischen Prozesses war. Diese völlig anachronistische Haltung droht einmal mehr ein Verständnis der wahren Ursachen zu erschweren. Denn selbstverständlich sind nicht 20 Prozent der Franzosen "Faschisten" - genausowenig, wie 11 Prozent der Franzosen Trotzkisten sind. Auch die Behauptung, dieses Wahlergebnis zeuge von einer ansteigenden Fremdenfeindlichkeit oder einer allgemeinen gesellschaftlichen Radikalisierung, stimmt nicht. Was es anzeigt, ist lediglich ein wachsender Protest gegen ein politisches System, das in seinen letzten Zügen liegt. Und es gibt einen Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn die politische Klasse sich weiterhin weigert, die Bedeutung dieser Warnung zu verstehen.

Wirklich gespannt sein darf man auf die Parlamentswahlen im Juni. Auf der Linken könnte die Furcht vor Le Pen zu einer Mobilmachung und der Bildung einer "gemeinsamen Front" führen, während am anderen Ende des politischen Spektrums der eine oder andere Sitz eines Chirac-Anhängers an den FN fallen dürfte. Im Falle eines Wahlsieges der Linken muß man sich auf weitere fünf Jahre der "Kohabitation" gefaßt machen.

Anderswo in Europa regieren seit Jahren Männer wie Gerhard Schröder, Tony Blair, José María Aznar oder Silvio Berlusconi. Frankreich verharrt indessen in der Breschnew-Ära. Zwischen seiner altersschwachen Führungsriege und dem französischen Volk hat sich eine gewaltige Kluft aufgetan, die nur tiefer werden kann - bis sie schließlich die Fünfte Republik selber in Frage stellt.


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