© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002


Deutsches Reinheitsgebot: Bitburger schluckt die Bierlegende Wernesgüner
Die letzte Pilslegende
Jutta Winckler

Fernsehwerbung von "Radeberger Pils", "Rotkäppchen-Sekt", "Spreewald-Gurken" und "Wernesgrüner" kennen mittlerweile selbst eingefleischte Alt-BRDler. Es handelt sich hierbei um Markenartikel aus den neuen Bundesländern. West-Berlin entwickelte sich zwischen Kriegsende und "Wiedervereinigung" zu einer weitestgehend industriefreien Zone; Ost-Berlin folgte diesem Sonderweg nach 1990 rapider, als selbst pessimistische Kenner der Materie es für möglich gehalten hätten. Mittlerweile hat sich - mit Ausnahme sächsischer Enklaven - der industrielle Produktionskrösus DDR flächendeckend in ein Agrar-, Dienstleistungs- und Kurztourismus-Gebiet verwandelt. Die "blühenden Landschaften" des kurpfälzischen Wirtschaftspropheten Kohl bewahrheiteten sich nach Art des delphischen Orakels: Dessen Voraussagen pflegten in einer Weise einzutreffen, die den vordergründigen Erwartungen der Interessenten wenig bis gar nicht entsprachen.

Im DDR-untypisch frommen Vogtland, tief in Sachsen, liegt der uralte Marktflecken Wernesgrün, zwischen Wald, Wiese und Acker, erreichbar über ein Landsträßchen, das sich ins Dorfinnere schlängelt. Inmitten der katenartig bescheidenen Bebauung erhebt sich der mächtige Gutshof einer Großbrauerei, erbaut 1912. Die Zeit scheint unter den Hohenzollern stehengeblieben zu sein, wenn die JF-Redakteurin im Jahr 2002 Zeugin einer urtümlichen Szene werden darf: Eines Kutschers "Hü!" und "Hott!" ist plötzlich zu hören, ein schwerer Wagen mit hölzernen Bierfässern rollt um die Ecke. Achtspännig gezogen von gewaltigen Rössern, deren Urkraft belgischer Kaltblutzucht entstammen muß. Die mythisch anmutenden Zugtiere schnauben und dampfen aus dem Maul; es ist das Werbegespann der Brauerei.

Am 18. Februar 2002 ruft Bernd Schmidt vom Vorstand der Wernesgrüner Brauerei seinen Bürgermeister an; Bernd Roßberg hebt ab und hört von seinem Gegenüber einen einzigen kurzen Satz, der einer Hiobsbotschaft gleicht: "Die Bitburger von drüben werden uns schlucken." Zu Jahresbeginn hatte der Bierkonzern aus dem Westen bereits 49 Prozent der Aktien erworben; Ende März 2002 erhöhte das hungrige Management der renommierten Premium-Marke den Anteil auf 63 Prozent. Auf ihre Eigenständigkeit hatten Bürgermeister, Firmenbelegschaft und sächsische Politiker aller Couleur bislang stolz sein können; seit neustem ist es damit vorbei. Wernesgrün, der Gemeinde Steinberg verwaltungsmäßig zugehörig, ist freilich entschlossen, keineswegs in das obligate "Ossi"-Gejammere über die frustierenden Zeitläufte einzustimmen: "Wer sagt denn, daß wir von der Übernahme nicht alle profitieren werden?" bringt Roßberg trotzig heraus. Und wirkt dabei wie einer, der sich im undurchdringlichen Wald eines entfesselten Marktgeschehens pfeifend Mut machen möchte. Nur allzu gut weiß er, "daß Übernahmen in aller Regel auch dazu dienen, Arbeitsplätze abzubauen".

Immerhin kämpft die Gegend schon mit fast zwanzig Prozent Erwerbslosen, gibt der Bürgermeister zu bedenken, und fürchtet überdies, "daß der Betrieb womöglich mit seiner Steuerkraft ausfallen wird. Ohne das Aufkommen der Brauerei steht nahezu alles in Frage, was wir uns bislang kommunal noch leisten konnten: Freiwillige Leistungen wie öffentliche Bäder und Unterstützung für unsere Vereine. Auch bei den Kindergärten werden wir dann rigoros sparen müssen." Die Brauerei ist im Ort historisch verwurzelt, seit dem 18. März 1436 haben die Wernesgrüner "das Recht zum Brauen und Ausschenken" und zu Honeckers Zeiten galt ihr Gerstensaft als eines der schmackhaftesten Biere. Der regierende Dachdecker mochte es und in den großen Städten machten gelegentlich ganze Betriebsteile blau, um im Handel an genügend Kästen der neuen Lieferung zu kommen. Nach dem Ende der DDR modernisierte und investierte die Brauereileitung, um ihre Pils-Legende weiterzuschreiben. Zweihundert Millionen deutsche Mark wurden in technische Ausrüstungen gesteckt; hinter den Klinkermauern der wilhelminischen Industriearchitektur, unter ihren historistisch spitzwinkligen Dächern und Gauben arbeitet eine der modernsten Brauanlagen Europas, so Braumeister Steffen Feig, und streichelt die chromblitzenden Gestänge aus Edelstahl. 1993 stellten die dreihundert Angestellten fast eine halbe Million Hektoliter Pils her; seitdem schmolz die Belegschaft auf 230 Personen zusammen, die freilich über achthunderttausend Hektoliter brauen. Womit die Pro-Kopf-Produktivität das West-Niveau ebenso erreicht hat wie die in Wernesgrün gezahlten Löhne. Es handelt sich um die fünftgrößte Brauerei im "Beitrittsgebiet Neufünfland" (Matthias Beltz), Jahr für Jahr gelingt es, den Ausstoß zu steigern.

Dies liegt zunächst an einer erfolgreichen Marketing-Strategie, die es vermochte, dem mitteldeutschen Wachstum just im verwöhnten, nachgerade überschwemmten Markt der Alt-BRD einen respektablen Platz zu erkämpfen; umsatzrelevanter aber war die Tatsache, daß der "gelernte" DDR-Verbraucher - nach kurzem Rausch - ernüchtert zu seinen Marken, seiner eigenen Produktions- und Konsumidentität zurückgekehrt war. Und demzufolge wieder sein geliebtes "Wernesgrüner" trank. 1994 wehrte das Dorf, das eigentlich eine Brauerei ist, einen Übernahmeversuch der Dortmunder "Brau & Brunnen" ab, die knapp die Hälfte der Aktien übernehmen wollte. Alteigentümer Christian Wolf wütete gegen die "Räuber aus dem Ruhrpott", man klebte Plakate mit der Losung "Für die sächsische Lösung!" Die Herren aus dem Westen wurden kurzerhand ausgesperrt, als sie der Belegschaft ihr Konzept vorstellen wollten. Die Westler gaben auf, und Wernesgrün feierte seinen Sieg mit etlichen Hektolitern Wernesgrüner Pils auf einem Volksfest. Mancher mag sich wie zu Zeiten von Asterix und Obelix vorgekommen sein.

Doch die Realität des "Haifischkapitalismus" (Helmut Schmidt) ist nicht die des Gallier-Comics. Die Alteigentümer behielten zwar ihre Aktienmehrheit, doch die Westler mischten zum ersten Mal mit als Minderheitsgesellschafter "Baykap", eine Tochter der Bayrischen Landesbank. 1997 verkauften die Erben des Unternehmens ihr Paket an die Riebeck-Brauerei in Erfurt; damit ging der eigenständige sächsische Weg zwar zuende, "Wernesgrüner" aber blieb - laut Werbebroschüre - "die größte und erfolgreichste konzernunabhängige Brauerei in den neuen Bundesländern". Soeben aber erwarben die Bitburger jene Baykap-Anteile, erhalten somit das absolute Sagen vor Ort. Von Wut und Empörung wie bei den zurückliegenden Versuchen zur Übernahme ist bislang nichts zu spüren: "Die Belegschaft hat die Nachricht eher positiv aufgenommen", sagt Ulrich Baumann, der Chef des Betriebsrats, "wir alle vertrauen auf die Bitburger. Heutzutage braucht jeder starke Partner, um überleben zu können."

Ricardo Breuer, Inhaber des örtlichen Frisörsalons, wundert sich nicht, daß diesmal der Protest ausbleibt: "Die Menschen geben sich keinen Illusionen über Unabhängigkeit mehr hin. Die Zeiten haben sich geändert." Auch Bernd Schmidt vom Vorstand der Brauerei ist dieser Meinung: "Am hart umkämpften deutschen Bier- und Braumarkt geht es nicht ohne leistungsfähigen Verbund." Er ist seit dreißig Jahren im Betrieb und weiß, "daß Bitburger der Wunschkandidat des Vorstands gewesen ist. Aktien wechseln nun mal den Eigentümer."

Gert Opel, der Lenker des imposanten Achtspänners, hofft, "daß ich meinen Arbeitsplatz oben auf dem Kutschbock behalten kann. Zur Not würde ich auch Bitburger Pils von meinem Wagen ausschenken." Und bezweifelt zugleich, daß die Wernesgrüner das fremde Gesöff annehmen werden: "Wir halten treu zu unserem Wernesgrüner!"


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