© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
Der Krieg ist eine Äußerung der Politik
Ein General in seinem Labyrinth: Bemerkungen zu Carl von Clausewitz (1780-1831)
Günter Maschke

Für Helmut Quaritsch zum 72. Geburtstag Antoine Henri Jomini bezeichnete Clausewitz' Hauptwerk "Vom Kriege" einmal mit einem hörbaren Stoßseufzer als "savant labyrinthe". Der Waadtländer war damit nicht weit entfernt von der Selbsteinschätzung des preußischen Generals, der sich als "Lichtspiel scheinbarer Widersprüche" verstand. Wie es um diese Widersprüche bestellt ist, seien sie nun echt oder scheinbar, ist noch immer nicht geklärt. Jeder sorgfältige Leser des so umfangreichen wie unübersichtlichen Gesamtwerkes und der ausgedehnten Literatur, die in circa 170 Jahren angehäuft wurde, muß sich diesen Schluß zu eigen machen. Sicherlich ist vieldeutig und unerschöpflich zu sein das schöne Vorrecht der Klassiker. Doch bei einer ernsten Sache wie dem Kriege sehnt man sich nach der Gewißheit und der Genauigkeit, die dem Gegenstande in so hohem Maße fehlen. Doch fehlen sie nicht auch dem Werke Clausewitz'? Je länger wir uns nämlich darin vertiefen, desto mehr wachsen die Vieldeutigkeit und die Unerschöpflichkeit an, und je hartnäckiger wir Rat bei der Sekundärliteratur suchen, desto deutlicher wird deren redundanter und repetitiver Charakter.

Die immergleichen Fragen - erwähnt seien nur: absoluter und wirklicher Krieg; Vernichtungsprinzip oder Primat der die Gewaltanwendung mäßigenden Politik; doppelte Art des Krieges; existentielle oder instrumentelle Kriegsauffassung; Verteidigung als stärkere Kriegsform - kehren, meist nur nach der jeweiligen Zeitgeist-Mode aufgezäumt oder bestenfalls mit bescheidenen inhaltlichen Anreicherungen versehen, wieder. Hoffnungsvoll verheißt uns ein so kluger Beobachter wie Raymond Aron in der Einleitung seines Clausewitz-Buches: "L'intention de Clausewitz, elle, se livre d'elle-même à quiconque consent à le lire attentivement." Im Vorwort aber, daß er doch sicher erst nach der Vollendung seiner imposanten Monographie niederschrieb, erklärt uns Aron mit weisem Achselzucken: "Qu'on le veuille ou non, l'enseignement de Clausewitz reste et restera toujours ambigu" .

Mag sich das zuversichtliche Montesquieu'sche "Plus réfléchira sur les details, plus on sentira la certitude des principes" im Falle Clausewitz auch blamieren, so wird es doch nützlich sein, das Teil zu betrachten. Besonderes Interesse erheischt die gern zitierte Wendung, daß der Krieg ein Instrument der Politik sei. "Der Krieg ist ein Instrument der Politik" lautet der Titel des Kapitel 6B des achten Buches über den "Kriegsplan". Die Behauptung steht hier in engem Zusammenhang mit der noch berühmteren Formulierung, daß der Krieg "nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel" sei.

Vieldeutig und unerschöpflich

Beschäftigen wir uns zunächst mit dieser längst proverbialen These, die auf immerhin neun Druckseiten unentwegt bekräftigt wird, wobei die Formulierungen einen inhaltlich dichten, gemeinsamen Kern aufweisen und sich wechselseitig stützen und ergänzen. Der Leser gestatte ein etwas auswucherndes Zitatment: Der Krieg ist "nur ein Teil des politischen Verkehrs, also durchaus nichts Selbständiges"; er wird "nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen"; er kann "niemals von dem politischen Verkehr getrennt werden"; er kann "nicht seinen eigenen Gesetzen folgen..., sondern muß als Teil eines anderen Ganzen betrachtet werden..., - und dieses Ganze ist die Politik"; "die Hauptlineamente des Krieges (sind) doch immer von den Kabinetten bestimmt worden..., d.h. von einer, wenn man technisch sprechen will, nur politischen, nicht militärischen Behörde"; keiner der Hauptentwürfe, welche für einen Krieg nötig sind, kann ohne Einsichten in die politischen Verhältnisse gemacht werden" usw.

Vom "Instrument" ist in diesem Passus viermal die Rede: Weil die Politik "allen strengen Folgerungen ausweicht, welche aus seiner Natur (der des Krieges, G.M.), hervorgehen", macht sie "aus dem alles überwältigenden Element des Krieges ein bloßes Instrument; aus dem furchtbaren Schlachtschwert..., einen leichten, handlichen Degen, der zuweilen selbst zum Rapier wird". Danach heißt es, daß, weil "die Politik... den Krieg erzeugt (hat)", sie "die Intelligenz" sei, "der Krieg also bloß das Instrument ist, und nicht umgekehrt." "Die ungeheuren Wirkungen der französischen Revolution" (und Napoleons ) haben freilich alle Verhältnisse gründlich umgestürzt: "Nur wenn die Politik sich zu einer richtigen Würdigung der in Frankreich erwachten Kräfte und der in der Politik Europas neuerstehenden Verhältnisse erhob, konnte sie das Resultat vorhersehen, welches für die großen Lineamente des Krieges daraus entstehen würde." Da dies jedoch für längere Zeit nicht gelang, müssen "die zwanzigjährigen Siege der Revolution ... hauptsächlich als die Folge der fehlerhaften Politik der ihr gegenüberstehenden Regierungen" betrachtet werden. Die bisherige Kriegskunst - das den Politikern der anti-revolutionären Mächte "wohlbekannte Instrument" - war unbrauchbar geworden und "natürlich in dem Irrtum der Politik mitbefangen". Zum Schluß unterstreicht Clausewitz noch einmal: "... der Krieg ist ein Instrument der Politik, er muß notwendig ihren Charakter tragen, er muß mit ihrem Maße messen".

Nun, der fortgeschrittene Clausewitz-Leser weiß, daß das achte Buch und damit auch dessen Kapitel 6B keine endgültige Formulierung fand und daß unser Autor in seiner "Nachricht" vom 10. Juli 1827 sogar erklärte, daß diese Abschnitte "nicht einmal als wahre Materialien betrachtet werden können, sondern ein bloßes rohes Durcharbeiten durch die Masse sind, um in der Arbeit selbst erst recht gewahr zu werden, wo rauf es ankommt." Wer also an der Geschlossenheit und logischen Triftigkeit des vorgestellten Passus zweifelt, der wird im ersten Buch "Über die Natur des Krieges" das erste Kapitel ( "Was ist der Krieg") aufschlagen, den einzigen Abschnitt seines Buches, den Clausewitz als vollendet ansah (d. h. rund vier Prozent der gesamten Textmasse!) und der dem noch zu überarbeitenden Werk die Richtung angeben sollte.

Im Grunde ändert sich aber am point de vue Clausewitz' nichts. Er betont noch einmal, "daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln" und "daß wir den Krieg unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu denken haben". Die vorläufigen Aussagen des Kapitels 6B des achten Buches decken sich also mit den endgültigen des Kapitels 1 des ersten Buches; besonders Spitzfindige mögen anmerken, daß im zuletzt genannten Text der Krieg als "Instrument" und als "Fortsetzung des politischen Verkehrs" nicht mehr nur in engem Zusammenhang stehen, sondern ein und dieselbe Sache sind und ineinander verschmelzen. Doch sind beide Abschnitte vom gleichen Geist getragen und dürfen als ein Text gelesen werden.

Rekognoszieren wir noch etwas das Thema Politik. Auf den ersten, häufig auch noch auf den zweiten Blick wirken Clausewitz' Aussagen derart stringent, daß viele Interpreten das von ihm unermüdlich Wiederholte ihrerseits repetieren und so doch nur am Schleier der Scheinklarheit mitweben. Wirkliche Einsichten, die ihr Deutungspotential nicht durchschauen, münden in Schlagworten, die allgemein akzeptierte Evidenzen vortäuschen. Wir beschränken uns auf wenige Punkte.

Zum ersten werden hier Krieg und Politik zwar in einem Atemzuge genannt, aber sie scheinen doch duale, einander entgegengesetzte Größen zu sein. Der Krieg erwächst zwar aus der Politik, steht ihr jedoch diametral gegenüber. Unzählige Politiker und Journalisten fordern, warnen sie vor realen Kriegsgefahren, daß man eine "politische Lösung" finden müsse. Sie meinen aber lediglich, daß ein diplomatisch ausgehandelter Ausweg (der freilich mit Sanktionsdrohungen garniert sein mag) gefunden werden muß.

Weben am Schleier der Scheinklarheit

Der Begriff der Politik fällt hier ineins mit dem des Friedens bzw. dem der friedlichen Mittel und entschwindet so unserem Auge. Die zahlreichen Verfechter einer derartigen Sichtweise behaupten, daß, wenn der Krieg ausbreche, die "Politik" versagt habe. Gerade Clausewitz habe vor dergleichen Situationen stets gewarnt und da er kontinuierlich falsch, nämlich militaristisch oder gar bellizistisch mißverstanden worden sei, müsse er, besonders angesichts der modernen Massenvernichtungsmittel, endlich "richtig" verstanden werden. Gelegentlich wird Clausewitz dabei sogar zu einem Ahnherrn einer dogmatisch-pazifistischen Friedensforschung ernannt, der Kriege allgemein "atavistisch" oder "überflüssig" vorkommen. In dem ausgedehnten Werke lassen sich ad libitum Sätze finden, die solche Ansicht zu stützen scheinen.En passant werden auf diese Weise "Krieg" und "Politik" auseinandergerissen. Diese Ansicht ist wohl leicht widerlegbar, wird aber von Clausewitz' oft nachlässigem Sprachgebrauch genährt, stellt er "Krieg" und "Politik" einfach einander gegenüber. Es gibt nicht nur eine militaristische Vulgarisierung Clausewitz', sondern auch eine pazifistische, die noch um einiges abwegiger ist, doch den zahlreichen "militärischen Kinderfreunden" behagt.

Triftiger als die Annahme einer Dualität Krieg/Politik ist die, daß, bleibt man der Ausgerichtetheit Clausewitz' auf die Außenpolitik eingedenk, die Politik über zwei Methoden verfüge: die Diplomatie einerseits, den Krieg andererseits. "Hören denn mit den diplomatischen Noten je die politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf? Ist nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres Denkens? Er hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik." Clausewitz hätte hier, um die Sache besser zu verdeutlichen, hinzufügen müssen, daß auch der diplomatische Verkehr nur über eine eigene Grammatik verfügt und die ihm wie dem Kriege gemeinsame eigene Logik im Besitz der Politik ist. Geht man davon aus, daß "Politik" der Oberbegriff von "Diplomatie" wie von "Krieg" ist, dann kann man nicht davon sprechen, daß das Zum-Kriege-Schreiten das Versagen der Politik bedeutet.

Sondern man schreitet zum Kriege, weil die Diplomatie nicht mehr als taugliches Mittel bzw. Instrument erscheint, was wohl etwas anderes ist. Manchem mag hier der Wille zum Krieg, der animus belli gerandi, zu kurz kommen: Gab bzw. gibt es nicht doch noch eine friedliche, wie man fälschlicherweise sagt, "politische" Lösung? Ist man zu früh, zu voreilig, zum Kriege geschritten? Aber diese Frage läßt sich gerade via Clausewitz erörtern. Die "Einheit" des Standpunktes ist hier, wenn man die Politik auf diese Weise als das Ganze nimmt, erreicht, - wenn nicht vergessen wird, daß der diplomatische Scheck stets militärisch gedeckt sein muß. Doch gerade an dieser Stelle zeigt sich die Einheit von Diplomatie und Krieg als Teile des Ganzen, der Politik.

Das Problem ist aber, daß Clausewitz' Denken auf einem klar konturierten Kriegsbegriff zu ruhen scheint: inter pacem et bellum nihil medium. Doch der das klassische Völkerrecht akzeptierende, wenn auch dessen Wirksamkeit nicht sonderlich hoch einschätzende Kriegsmann war Politologe genug, um uns unentwegt auf den status mixtus hinzuweisen, der weder Krieg noch Frieden ist, sondern "intermediacy between Peace and War" (Philip Jessup); - wenn wir dies auch seinen Werken wörtlich nur selten entnehmen können, so läßt es sich inhaltlich doch leicht aus ihnen gewinnen, lassen wir nur die vielen Schilderungen konkreter historischer Fälle (nicht nur in "Vom Kriege"!) Revue passieren.

Die Einheit, das Ganze der Politik, entsteht bei Clausewitz nicht als die Summe der klar abgrenzbaren Teile "Diplomatie" und "Krieg", sondern ist Ergebnis eines glissando, einer Skala, auf der die Grenze zwischen Krieg und Frieden, die zuvor so deutlich markiert wurde, verschwimmt.

Man kann freilich als Oberbegriff und Ausgangspunkt "Kampf" setzen, der dann mit der "Politik" ineins fällt: der permanente Kampf zwischen politischen Körpern bedient sich bald friedlicher, bald kriegerischer Mittel; der Wechsel der Methoden erklärt sich dann daraus, daß der Mensch weder auf Gewaltanwendung und Töten verzichten, noch ohne Unterlaß damit leben kann. Doch diese realistische (der Zeitgeist sagt: pessimistische) Anthropologie erklärt die konkreten geschichtlichen Unterschiede der jeweiligen Frieden und Kriege nicht, so sehr sie als Hintergrund stets mitgedacht werden muß.

Die dritte und wohl bedeutendste Irritation entsteht, wenn Clausewitz von "Politik" spricht, ohne zu klären, ob er die subjektive (policy) oder die objektive Politik (politics) oder ihr Mit- und Ineinander meint. Da die Politik die Einheit bzw. das Ganze ist, hat seine oft unklare Ausdrucksweise ungewollte Folgen. Eine gründliche Durchsicht sämtlicher Schriften unter diesem Aspekt würde einiges zutagefördern, ist aber noch zu leisten.

In einer bereits oben kurz zitierten Wendung ist die Rede davon, daß die Politik "aus dem alles überwältigenden Element des Krieges ein bloßes Instrument (macht); aus dem furchtbaren Schlachtschwert, was mit beiden Händen und ganzer Leibeskraft aufgehoben sein will, um damit einmal und nicht mehr zuzuschlagen, einen leichten, handlichen Degen, der zuweilen selbst zum Rapier wird, und mit dem sie Stöße, Finten und Paraden abwechseln läßt", - das ist nichts anderes als die sowohl idealisierte als auch letztlich idealtypische Darstellung des Kabinettskriegs, der von Clausewitz zwar in seiner historischen Bedingtheit verstanden wurde, den er aber doch als eine degenerierte, schwächliche Kriegsform eher verachtete.

Wenn auch diese vorsichtige Fechtweise und die betreffende Heeresorganisation ihren objektiven Grund hatte, kurz, in den sozioökonomischen und staatspolitischen Bedingungen des Absolutismus wurzelte, so trat hier doch der Einfluß handelnder Individuen, also des Staatschefs (der identisch mit dem Feldherrn sein mochte) auf den Kriegsplan und auf die politischen Ziele deutlich hervor und der Spielraum der subjektiven Politik wurde sichtbar, deren Präzisionsinstrument, das "Puppenwerk" der stehenden Heere, so kostbar und zerbrechlich war, daß der strategische Scharfsinn sich häufig darauf kaprizierte, es unter peinlichster Begrenzung der Risiken einzusetzen.

Einheit von Krieg und Diplomatie

Die Rede vom "Instrument" läßt an das Handwerk und an die Kunst denken. Obgleich Clausewitz dafürhielt, daß "der Krieg nicht in das Gebiet der Künste und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens" falle. Der große Kritiker des sterilen Methodismus der Kabinettskriege, der nicht müde wurde, die Bedeutung der moralischen Faktoren herauszustreichen, wußte, "daß der Krieg keine Tätigkeit des Willens ist, die sich gegen einen toten Stoff äußert wie die mechanischen Künste, oder gegen einen lebendigen, aber doch leidenden, sich hingebenden Gegenstand, wie der menschliche Geist und das menschliche Gefühl bei den idealen Künsten, sondern gegen einen lebendigen, reagierenden.

Wie wenig auf eine solche Tätigkeit der Gedankenschematismus der Künste und Wissenschaften paßt, springt in die Augen, und man begreift sogleich, wie das beständige Suchen und Streben nach Gesetzen, denen ähnlich, welche aus der toten Körperwelt entwickelt werden können, zu beständigen Irrtümern führen müssen. Und doch sind es gerade die mechanischen Künste, denen man die Kriegskunst hat nachbilden wollen." Der Krieg ist für Clausewitz Ungewißheit, Friktion, Zufall, vor allem: Handeln unter erschwerten Bedingungen, wobei dies Handeln stets ein Gegenhandeln provoziert.

Wenn Clausewitz dennoch vom "Instrument" spricht, dessen Fragilität er stets betont, dann nur deshalb, weil man, verfügt man über ausreichende Kenntnisse und Kräfte, über coup d' oeil und Entschlußkraft, in die Kalkulation mit unsicheren Größen eintreten, d. h. zum Kriege schreiten kann.

Doch je kraftvoller die Kriegführung, je mehr sie Sache der Völker wird, je komplizierter die Waffentechnik, desto unabsehbarer die Wirkungen, die sie hervorruft und die sie auslöst, je unklarer die Grenzziehung zwischen Kombattant und Nicht-Kombattant, je verwickelter die Interessen der Staaten, desto schwieriger ist der Kriegsplan zu erstellen, desto mehr sinkt die Chance, den Krieg zu steuern. Da bei Clausewitz aber "Politik" hier eindeutig Steuerung bzw. Steuerungsfähigkeit, das heißt subjektive Politik, meint, die in der Hand befähigter Individuen liegt, kann sie sich auch an irgendeinem Punkte als solche auflösen. Es scheint, daß der Krieg die Politik vollständig aufzehrt. Genau an dieser Stelle setzt die heute wohl vorherrschende Clausewitz-Deutung an: weil die subjektive Politik, das heißt auch deren Träger, die Intelligenz des personifizierten Staates, die Natur des Krieges (anhand derer die objektive Politik sichtbar wird) nicht mehr genügend zu durchschauen vermag, erklärt sie den Krieg zum Ende der Politik und beruft sich dabei noch auf den preußischen General. Bis zu irgendeinem Zeitpunkt war der Krieg die Fortsetzung der Politik, heute wäre er, zumindest bei der Verwendung bestimmter Waffen, ihr Ende - und davor hätte Clausewitz stets gewarnt. Die gleichen Autoren zögern nicht, Clausewitz' Aktualität gerade im Atomzeitalter gegenüber allen Zweiflern zu behaupten.

Vom Unvermögen, die Gewalt zu lenken

Doch gerät die Politik wirklich an ihr Ende, wenn der Krieg sich so sehr intensiviert, daß er "absolut" wird, daß er hervorgeht "aus dem bloßen Begriff der Gewalt und Vernichtung"? Nicht die geringste Leistung Clausewitz' ist es, daß er gerade dies entschieden zurückweist: "Ein solcher Krieg sieht ganz unpolitisch aus ... aber offenbar fehlt das politische Prinzip hier ebensowenig als bei anderen Kriegen, nur fällt es mit dem Begriff der Gewalt und Vernichtung ganz zusammen und verschwindet unserem Auge." Was jedoch verschwindet, ist allein die subjektive Politik, also die Steuerungsfähigkeit, das Vermögen, die Gewaltanwendung zu lenken und zu leiten.

Wir stehen einer äußersten Verselbständigung und Steigerung der objektiven Politik gegenüber: Politik = Feindschaft, doch nunmehr ohne die für die Dosierung der Gewalt notwendigen Mittel. Die subjektive Politik, die bei Clausewitz der objektiven untergeordnet ist, weil letztere der ersteren die Rahmenbedingungen vorzeichnet, - nur sie endet hier. Der absolute Krieg, Idealtypus und Grenzbegriff zugleich, der den einheitlichen Standpunkt des Werkes begründet, gerät jedoch nicht in Widerspruch zu dem anderen Begriff, von dem unser Autor wohl noch häufiger sagt, daß er diese Einheit stifte: dem der Politik. Im Gegenteil: Clausewitz eröffnet seine soeben zitierten Worte mit den Sätzen: "Je mehr die Politik von großartigem, das Ganze und sein Dasein umfassendem Interesse ausgeht, je mehr die Frage gegenseitig auf Sein und Nichtsein gestellt ist, um so mehr fällt Politik und Feindschaft zusammen, um so mehr geht jene in dieser auf..." Gerade wenn die Politik zu verschwinden scheint, erreicht sie (als objektive, ohne Beimischung der subjektiven) ihre höchste Intensität. Weil aber Clausewitz, spricht er vom "absoluten Krieg", zum einen an den reinen Krieg ohne Friktion und ohne politische Steuerung denkt und sich dann allenfalls nur en passant über die Politik ausläßt, weil bei ihm andererseits das Problem der subjektiven Politik, in der Sache untergeordnet, eine dominante Rolle spielt, bedenkt man die Häufigkeit seiner Erwähnung, wird die hier präsentierte Briefstelle nur selten als wahrer Schlüsseltext verstanden.

Die Erfahrung, daß der Krieg von der (objektiven) Politik sowohl bestimmt als auch durchformt ist, daß diese "der Schoß sei, in dem sich der Krieg entwickelt", stand also vor der Frage, ob Kriege steuerbar sind oder waren. Je mehr sich der Krieg seiner "absoluten Gestalt" näherte, desto mehr wuchs die Gefahr, daß er seinen Charakter als "Instrument" verlor. Daß der Krieg ein "Instrument" der Politik sei, erläuterte Clausewitz anhand zahlloser Beispiele, in denen er es auch tatsächlich war. Doch stoßen wir immer wieder auf Textstellen, in denen vom "Instrument" die Rede ist, obgleich wenige Zeilen vorher oder nachher der Krieg in seiner absoluten Gestalt bzw. in seiner Annäherung an diese das Thema ist. Spricht Clausewitz von der veränderten Politik der französischen Revolution bzw. Napoleons, die andere Mittel und andere Kräfte entband und eine bis dahin unbekannte Energie entfesselte, so zieht er ausgerechnet hieraus die Folgerung, der Vorgang beweise, daß der Krieg ein "Instrument" sei. Ähnliches unternimmt er in dem oben zitierten Brief an den Major von Roeder. Nachdem Clausewitz eine Lage schilderte, in der es um den instrumentellen Charakter des Krieges mehr als schlecht bestellt war, beendete er seine Betrachtungen mit der Behauptung, daß sich gerade hier der "Instrument"-Charakter des Krieges zeige. Zwar war Clausewitz neben Jomini der bedeutendste Analytiker der napoleonischen Kriegführung und sah deren Weiterungen voraus. Zugleich war er aber auch der konservativste der preußischen Reformer. Keiner dachte über den Volkskrieg so skeptisch wie er und keiner war so wie er der Rhetorik eines untergegangenen Etatismus verpflichtet. Eine der Vergangenheit entnommene sprachliche Formel legte sich als dunkler Firnis über ein ganzes System neuer Einsichten und sollte dieses doch erhellen.

Kein Leitfaden für Philanthropen

Doch die Politik war auch hier, in dem Brief an den Major von Roeder, das Vorrangige, prägte auch hier den Krieg und war bis in seine höhere Ebene, bis in die wichtigeren Operationen hinein wirksam. Doch zur Steuerung war sie weitgehend unfähig, weil sie darauf verzichtete. Besser: Die objektive Politik hatte eine Sphäre erreicht, auf die die subjektive nicht länger einzuwirken vermochte und abdanken mußte. Nicht daß der Krieg das Instrument der Politik sei, wie es militärwissenschaftlichen Philanthropen zupaß käme, ist Clausewitz' Hauptthese, sondern die sich keineswegs damit deckende, daß der Krieg, sei er nun noch Instrument, oder sei er es bereits nicht mehr, die "Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel" ist. Doch Clausewitz fand eine noch bessere Formulierung, deren Differenz zur vorhergehenden ihm nicht gewahr wurde: Er schrieb, daß die Kriege nichts seien als "Äußerungen der Politik" und an anderer Stelle, daß der Krieg "nichts ist als eine Äußerung der Politik mit andren Mitteln". Spätestens oder eher noch: kurz bevor die Kriege "aus bloßer Feindschaft Kämpfe auf Leben und Tod" werden (eine Möglichkeit, die Clausewitz schreckte, die er jedoch für plausibel hielt), wurde seine eigene Rede vom Krieg als "Instrument" sinnlos.

In jedem Falle aber, im äußersten wie im geringsten, ist der Krieg der Ausdruck bzw. die Äußerung von Politik. Es ist möglich, daß der Krieg seinen Charakter als Instrument verliert oder nicht einmal gewinnen kann oder soll; unmöglich jedoch ist, daß er nicht Ausdruck bzw. Äußerung von Politik sei. "Instrument" ist der Krieg häufig nicht, "Fortsetzung" ist er stets, - aber "Fortsetzung" verweist zu stark auf den friedlich-politischen Verkehr und stützt die beliebte Vermutung, daß der Krieg letztlich nur eine Unterbrechung des Friedens sei als etwas Normalem; "Ausdruck" bzw. "Äußerung" ist der Krieg hingegen immer: von der bewaffneten Beobachtung bis zum Atomkrieg. "Ausdruck" impliziert die vollständige Gleichgewichtigkeit von "Krieg" und "Frieden" und wirft auch die Frage nach der Art des Friedens auf: es gibt nicht nur unzählige Formen des Krieges, sondern auch unzählige des Friedens und auch diese sind "Ausdruck" einer je bestimmten Art von Politik, ein Aspekt, den auch viele kluge Betrachter kaum streifen. Der Krieg ist der Ausdruck bzw. die Äußerung der Politik - vielleicht können von dieser Formel aus die Widersprüche von Clausewitz' Werk gelöst und dessen Einheit gewonnen werden.

Postscriptum: Hoffen wir, verehrter Helmut Quaritsch, auf den Satz, daß Skizzen anregender sein können als ausgeführte Gemälde - auch wenn es sich hier allenfalls um eine Vorskizze handelt.

 

Bildtext: Carl von Clausewitz: Von "militärischen Kinderfreunden" vulgarisiert

Bildtext: Husaren in der Schlacht bei Möckern am 16. Oktober 1813: Je kraftvoller die Kriegsführung, desto unabsehbarer die Wirkungen


 
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