© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/02 19. April 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Das Volk befragen
Carl Gustaf Ströhm

Es müßte ein Wunder geschehen, wenn nach dem Ergebnis des ersten Wahlgangs in Ungarn (JF16/02) die Fidesz-Bürgerpartei von Ministerpräsident Viktor Orbán im zweiten Wahlgang am 21. April die absolute Mehrheit schaffte. Wahrscheinlich kommt in Budapest nun eine Linksregierung unter postkommunistischer Führung des sozialistischen Spitzenkandidaten Péter Medgyessy.

Justament im Interregnum zwischen den Wahlgängen meldete sich eine Budapester Universitätsprofessorin, Magdolna Csáth, mit einer ungewöhnlichen Analyse zu Wort: Ungarn sei heute das "am meisten globalisierte und liberalisierte Land Ostmitteleuropas". Alle Budapester Regierungen - ob links oder rechts - hätten eine kritiklos neoliberalistische Politik im Schlepptau von Weltbank und Währungsfonds betrieben. Bei Linken wie Rechten herrsche die Illusion, daß sich alle wirtschaftlichen Probleme durch internationale Firmen und durch totale Markt-Liberalisierung lösen ließen.

Frau Csáth meint, daß diese Wirtschaftspolitik für die Masse der ungarischen Bevölkerung katastrophale Folgen hatte. Der Lebensstandard des Durchschnittsbürgers, vor allem der Rentner, sei heute niedriger als 1989 und betrage nur zehn Prozent des EU-Durchschnitts.

In der Rangliste von 174 Ländern nehme Ungarn hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung den 47. Platz ein - etwa auf der Stufe von Mexiko. Die Lebenserwartung sinke - und eines der dramatischsten Resultate des Neoliberalismus sei die ständige Verschlechterung der Gesundheitsversorgung, vor allem alter und kranker Menschen. So liege die durchschnittliche Lebenserwartung in Ungarn bei 70,9 Jahren (Deutschland: 77,2) und sei um mehrere Jahre niedriger als in der Slowakei oder Polen. Die Kindersterblichkeit sei doppelt so hoch wie in Österreich. Das Land müsse in den nächsten anderthalb Jahrzehnten mit einem dramatischen Bevölkerungsrückgang um zehn Prozent rechnen.

Die ungarische Wirtschaft sei zu 75 bis 80 Prozent ausländisches Eigentum. Das sei einmalig in der EU. Die Arbeitsplätze, die von ausländischen Firmen geschaffen wurden, seien meist schlecht bezahlte Montage-Jobs. 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung habe solche schlechten Arbeitsplätze. "Die ausländischen Firmen investieren nicht in ihr Personal, sie brauchen kein hochqualifiziertes Wissen und möchten nicht dafür zahlen", so Csáth.

"Die ungarischen Politiker schützen das ungarische nationale Interesse nicht", sagt die Budapester Professorin. Die ungarischen Dörfer seien dem Verfall durch Armut preisgegeben, Ausländer kauften die Bauernhäuser und machten daraus Ferienwohnungen. Das führe zu sozialen Spannungen. Die ungarische Wirtschaftsphilosophie sei auf der falschen Spur: "Hohe Beteiligung internationaler Unternehmen an der ungarischen Wirtschaft garantiert keineswegs hohe lokale Wertschöpfung, weder eine Stärkung der Wirtschaft, noch Wohlstand."

Magdolna Csáth fordert die Regierung - ob konservativ oder rot - auf, das neoliberale Entwicklungsmodell aufzugeben, "das niedrigen Lebensstandard und Abhängigkeit von internationalen Konzernen" verursache, und statt dessen eine soziale Marktwirtschaft einzuführen. Was den EU-Beitritt betrifft, müsse Ungarn erst einmal feststellen, wo die Vorteile oder Nachteile liegen. Dann müsse das Volk befragt werden, denn schließlich solle ja das Volk beitreten und nicht die Politiker.


 
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