© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   17/02 19. April 2002


Der Weg in die Anarchie
Von einer Internationalisierung der Intifada könnte auch Europa betroffen sein
Michael Wiesberg

Uno-Generalsekretär Kofi Annan hat sich für die rasche Entsendung einer internationalen Truppe in die palästinensischen Gebiete ausgesprochen. Angesichts der gefährlichen Lage und der "entsetzlichen humanitären und Menschenrechtssituation", so Annan, dürfe dieser Schritt nicht länger hinausgezögert werden. Bundeskanzler Schröder raunte, daß die Konfliktparteien im Nahen Osten offensichtlich nicht mehr die Kraft hätten, das "Problem" alleine zu lösen. Es müsse deshalb einen "zumutbaren Druck" von außen geben. Man müsse darüber nachdenken, die Konfliktparteien zu trennen. Im Falle eines Uno-Militäreinsatzes im Nahen Osten schlug Schröder vor, auch den Einsatz deutscher Soldaten in Erwägung zu ziehen.

Äußerungen wie die von Annan oder Schröder zeigen, daß das fragwürdige Instrument von "internationalen Schutztruppen", die zur Pazifisierung in Konfliktregionen geschickt werden, inzwischen mehr und mehr zur ultima ratio der sogenannten Völkergemeinschaft wird. Dieses Instrument erlebt nun im Hinblick auf den Nahen Osten eine Neuauflage, obwohl die bisherigen Erfahrungen eindeutig belegen, daß die Entsendung von "internationalen Schutztruppen" nur vordergründig zu einer Befriedung der Lage führt. Faktisch werden, das zeigen die Beispiele Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien oder auch Afghanistan, Protektorate geschaffen, die entweder unter Aufsicht der Nato oder der Uno stehen. Die bis dato offen ausgetragenen Konflikte werden nur in den Untergrund abgedrängt. Es darf deshalb davon ausgegangen werden, daß diese Konflikte genau in dem Moment erneut virulent werden, wenn die "Schutztruppen" eines Tages wieder abziehen.

Entscheidend aber dürfte sein, daß die inzwischen inflationäre Anwendung des Instrumentes "Schutztruppe" zwangsläufig die Gefahr eines nachhaltigen Scheiterns in sich birgt. Der Westen ist dabei, seine Möglichkeiten zu überdehnen. Was aber kommt dann? Eine internationale "Anarchie", wie sie der US-amerikanische Publizist Robert Kaplan bereits Anfang 1994 angekündigt hat? Vieles spricht dafür, daß Kaplan so falsch nicht liegt. Er darf sich in seiner Einschätzung der Lage in Übereinstimmung mit Samuel Huntington wähnen, der die künftigen Konflikte wesentlich durch den Niedergang und Bedeutungsverlust des Nationalstaates bestimmt sieht. Weil der Staat immer mehr Macht und Funktionen an supranationale Gebilde verliert und die Auflösung großer Staaten wie beispielsweise der Sowjetunion zu einer Vielzahl kleinerer Staaten geführt hat, die zu schwach sind, um in der "internationalen Anarchie" bestehen zu können, erleben wir derzeit eine nachhaltige Destabilisierung des Weltstaatensystems. Der Staat werde innerhalb seiner Grenzen von immer mehr Gruppen und Organisationen in Frage gestellt.

Im Zentrum des Weltkonflikts steht für Huntington die Konfrontation zwischen dem Westen und dem Islam. Nur diese beiden Kontrahenten würden universelle, die Werte der jeweils anderen Zivilisationen in Frage stellenden Vorstellungen einer "neuen Weltordnung" verfechten. Weil beide Zivilisationen für ihre Ordnungsvorstellungen Ausschließlichkeitsansprüche behaupteten, würden die historisch ohnehin verfeindeten Zivilisationen nach Huntington zwangsläufig aneinander geraten. Der 11. September 2001 kann vor diesem Hintergrund durchaus als eine Art Menetekel dieser Auseinandersetzung gelesen werden.

Die Herrschaft der politischen Korrektheit hat bisher in Deutschland eine sachgemäße Auseinandersetzung mit den Thesen Huntingtons unterdrückt. Huntington wurde vorgehalten, neue "Feindbilder" schaffen zu wollen. Der auf diese Weise unterbundene Diskurs hat mit dazu beigetragen, daß eine nüchterne Analyse sich immer weiter zuspitzender internationaler Konfliktlagen in Deutschland bisher weitgehend ausgeblieben ist. Was nun müßte in eine nüchterne Analyse eingehen? Zunächst die Feststellung, daß Demokratie und individuelle Menschenrechte in westlichen Traditionen wurzeln. Diese stoßen allerdings bereits im Mittelmeerraum auf die Gegenvorstellung der "Hakimiyyat Allah" (Gottesherrschaft), deren Staatspraxis in einem signifikanten Widerspruch zum modernen Nationalstaat westlicher Prägung steht. Dieser Antagonismus vermittelt eine Vorstellung davon, was die Formel "Zusammenprall der Zivilisationen" meint: Westliche Vorstellungen von territorialen Grenzen, Marktwirtschaft, Meinungsfreiheit, Priorität von Menschenrechten kollidieren mit islamischen Vorstellungen von einer Stammes- und staatenübergreifenden Gemeinschaft ("Umma"), die die Basis abgeben soll für eine auf einen reinen Monotheismus gegründete Gesellschaftsordnung. Diese orientiert sich freilich nicht am säkularen Recht, sondern an der Scharia.

Daß sich hierbei auch ökonomische Interessengegensätze und geistige Feindschaft mischen, versteht sich von selbst. Hinzu kommen unterschiedliche Einstellungen zum Krieg und zur Gewaltlosigkeit. Das islamische Weltbild basiert auf der Bestimmung der Territorialität des Islams als "Haus des Friedens". Das legt nahe, daß Gebiete, die von "Nicht-Muslimen" bewohnt werden, aus Sicht strenggläubiger Muslime "Kriegsgebiete" sind. Man mag diese Schlußfolgerung für überzogen halten. Kenner des Islams räumen aber ein, daß diese Lesart durchaus nicht abwegig ist.

Man hat Huntington weiter vorgehalten, daß in der Weltpolitik nur Staaten als Subjekte handeln könnten. Wie sehr dieser Einwand die tatsächliche Entwicklung verfehlt, zeigt aber bereits der Umstand, daß von den seit 1945 bis zum Fall der Mauer gezählten etwa 180 bewaffneten Konflikten auf der Welt nicht einmal 20 Prozent als zwischenstaatliche Konflikte und damit als Kriege im klassischen Sinne eingestuft werden können.

Die Alltäglichkeit des "Krieges zwischen den Zivilisationen" wird demnach nicht durch den Zusammenprall staatlicher Armeen an den Schnittstellen der Zivilisationen, als vielmehr durch Terrorismus und Kommandounternehmungen gekennzeichnet sein. Die derzeitigen Konflikte im Nahen Osten könnten deshalb paradigmatisch für zukünftige Konfliktlagen auch in Europa werden. Der französische Philosoph Paul Virilio befürchtet beispielsweise, ein derartiges Übergreifen könnte nach dem Schema der "Intifada" ablaufen. Die "verlorenen Kinder" der islamischen Immigration in den französischen "Banlieus" sowie andere ethnische und religiöse Gruppen, die massenhaft aus Afrika, Asien oder den Staaten Osteuropas zugewandert seien, könnten, so Virilio, in Westeuropa eine "zweite Front" eröffnen, die dann eine urbane Front wäre. Diese zweite Front könnte eine nachhaltige Destabilisierung der europäischen Demokratien nach sich ziehen. 


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