© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Es begann schon lange vor 1945
Vertreibung: Der "Westgedanke" von Polen und Tschechen entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert
Stefan Scheil

Nichts, was im Europa während der letzten hundert Jahre geschehen ist, läßt sich ohne die Entwicklung seiner Nationen verstehen. Das gilt ganz besonders für die neue und dauerhafte Nationalisierung Ost- und Südosteuropas, dessen politische Landkarte durch den Ersten Weltkrieg auf bis dahin unbekannte Weise verändert wurde. Vorher hatte die ganze Region unter dem Einfluß der drei Kaiserreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland eine vormoderne Stuktur bewahrt, die auf ethnische Grenzen nur begrenzt Rücksicht nahm, jetzt erzeugte dieser Krieg eine Reihe neuer Staaten. Diese Staaten stellten leider nur eine Etappe auf dem langen Weg zum Nationalstaat dar, da sie mit mindestens ebensoviel Rücksicht auf pure Machtpolitk wie auf demokratische Grundsätze konstruiert worden waren. Symptomatisch dafür war, daß gerade das demokratische Großdeutschland wegen der alliierten Politik zu einem "Ordnungsmodell ohne Chance" (Günter Wollstein) verurteilt war. Die neuen Staaten nahmen auf ethnische Grenzen jedenfalls wenig Rücksicht, waren aber trotzdem alle unter nationalistischen Vorzeichen gegründet worden. So entstand ein eigentümliches Spannungsfeld, dessen Abwicklung die europäische Politik nach der Auflösung Jugoslawiens bis heute beschäftigt. Keiner der multiethnischen Staaten, die in Versailles geschaffen wurden, hat das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt.

Zwischen dem offiziell erhobenen Anspruch, für nationale Unabhängigkeit zu stehen und der Tatsache, daß beim besten Willen weder Polen noch die Tschechoslowakei oder Jugoslawien als Nationalstaaten bezeichnet werden konnten, gab es in jedem dieser Länder einen Konflikt, der auf demokratischem Weg schlicht unlösbar war. Besonders betroffen waren die unmittelbaren Nachbarn Deutschlands. Nationale, demokratische Selbstbestimmung für die neu entstandenen deutschen Minderheiten hätte den sofortigen Verlust der deutsch besiedelten Gebiete für Polen und die Tschechoslowakei bedeutet. Überall dort, wo es möglich war, hatten sich sowohl die Sudetendeutschen als auch die Schlesier und Ostpreußen in freien Erklärungen und Abstimmungen zu Deutschland bekannt. Da sie aber entschlossen und von den Westmächten auch dazu ermächtigt waren, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen zu ignorieren, standen die tschechischen und polnischen Eliten vor schwierigen Aufgaben.

Sie gingen das Problem unterschiedlich an, griffen aber beide auf Vorstellungen zurück, die sich Jahrzehnte vorher entwickelt hatten. Die Republik Polen verstand sich bekanntlich als Nachfolger des mittelalterlichen polnischen Reichs und erhob Anspruch auf alle Gebiete, die jemals in irgendeiner juristischen Form zu diesem Reich gehört hatten. Gründe dafür ließen sich konstruieren, seien es alte Grenzziehungen, vergangene Siedlungsgebiete oder ehemalige Handelsstraßen, am besten eine Kombination von allem. Aus diesen Elementen setzte sich der polnische "Westgedanke" zusammen, der seit den 1870er Jahren stetig an Einfluß gewonnen hatte. Zuerst war er eine Angelegenheit von Professoren gewesen, in den zwanziger Jahren hatte er längst die Politik erreicht. Namhafte Politiker und Militärs begannen Forderungen auf Schlesien, Pommern und Ostpreußen zu erheben.

Solche Gedanken genossen in der polnischen Öffentlichkeit durchaus Popularität und sie erreichten auch den Generalstab. Ein Buch des polnischen Generalstabsoffiziers Henryk Baginski von 1927 über "Polens Zugang zum Meer" trieb sie auf die Spitze. Es ist zudem ein Beispiel für die Kontinuität der polnischen Ansprüche von der Vorkriegszeit bis 1945, denn Baginski bekam während des Winters 1940/41 im Londoner Exil die Gelegenheit zu einer Neubearbeitung seiner Schriften. So konnte nun auch die westliche Öffentlichkeit nachlesen, was der polnische Westgedanke seit den zwanziger Jahren forderte: "Es wird niemals Frieden in Europa geben, bis Preußen ausgelöscht ist und die Hauptstadt Deutschlands von Berlin nach Frankfurt am Main verlegt wird, da Berlin auf altem slawischem Land gebaut wurde. Nur wenn diese Unterdrückung der Slawen rückgängig gemacht wird, wird Deutschland wieder harmlos sein."

Bemerkenswert war nicht nur die Karriere des Autors, der erst in den polnischen Generalstab versetzt wurde und bis 1939 dessen Mitglied blieb, nachdem er öffentlich solche Forderungen gestellt hatte. Bezeichnend war zudem, daß Baginski auf Basis der Theorie des "Dritten Europa" oder "Intermarium" argumentierte, die unter Außenminister Beck in den dreißiger Jahren das Leitmotiv der polnischen Außenpolitik werden sollte. Danach diente Polen analog zu Frankreich (Atlantik-Mittelmeer) und Deutschland (Nordsee-Adria) als dritte europäische Verbindung zweier Meere (Ostsee-Schwarzes Meer). So waren die polnischen Gebietsansprüche deutlich bezeichnet, auch deswegen, weil die Mündung der Oder üblicherweise als westliches Ende dieser Verbindungslinie galt, so auch bei Baginski.

In der Londoner Ausgabe seines Buchs nannte er dann gar noch die Elbe einen "bedeutenden slawischen Fluß" und gab eine Karte bei, auf der Polens "historische Grenzen" kurz vor Braunschweig endeten. In der Ausgabe von 1927 hatten sie noch kurz vor Berlin gelegen, allerdings auf dem Westufer der Oder. In Bezug auf Ostpreußen war es mit der bloßen Eroberung ausdrücklich nicht mehr getan. Nur die Vertreibung der Bevölkerung wäre eine "Endlösung" (final solution) für dieses "dornige Problem". Dies war keine Publikation eines versprengten Radikalen, sondern eine Veröffentlichung aus polnischen Regierungskreisen, zu der mit Marian Kukiel der amtierende Verteidigungsminister das Vorwort geschrieben hatte.

Alle Interpretationen, die polnische Vertreibungspolitik der Nachkriegszeit sei eine bloße Reaktion auf das deutsche Besatzungsregime im Generalgouvernement, gehen an der Chronologie der Ereignisse vorbei. Außenminister Beck ließ solche Gedanken bereits erkennen, als er sich im August 1938 mit Carl Burckhardt, dem Völkerbundkommissar für Danzig traf: "Beck hat mich etwas in seine Pläne eingeweiht. Es ist ein Spiel, bei welchem man für Polen auf den höchsten Gewinn hofft, einen Gewinn, der sich ergeben soll aus einer schließlichen und unvermeidlichen deutschen Katastrophe. Man hofft in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern." Die mit diesen Absichten verbundene Behauptung von Teilen der polnischen Publizistik, es handle sich bei der gesamten Bevölkerung östlich von Oder und Neiße um Slawen, die lediglich oberflächlich germanisiert seien und deren angeblich geringen deutschen Bevölkerungsteil man dahin zurückschicken wolle, wo er hergekommen sei, stellte ein radikales nationalistisch-völkisches Expansionsprogramm dar. Einer Millionen zählenden Bevölkerung auf einer Fläche von mehr als einhunderttausend Quadratkilometern wurde gesagt, ihre Existenz müsse ein Ende haben - sei es durch Vertreibung oder durch einen Wechsel zurück zu der "polnischen Identität", die ihre Vorfahren laut Baginski angeblich vor Jahrhunderten gehabt hatten: "Wenn die Iren zu ihrer keltischen Tradition und Sprache zurückkehren können, wenn die Juden in Palästina wieder Hebräisch sprechen, dann gibt es keinen Grund, warum die Menschen östlich der Elbe nicht ihre slawische Tradition erneuern sollten." Es gab im Europa des nationalistischen Zeitalters kaum einen vergleichbaren Anspruch an eine andere Nation. Der polnische "Westgedanke" bewegte sich lange Zeit auf einer singulären Ebene, bis sich in der tschechischen Politik ähnliche Vorstellungen zu entwickeln begannen.

Anders als Polen begann die Tschechoslowakei nach 1919 weder sofort mit einer systematischen Entdeutschungspolitik, noch erhob sie Ansprüche auf weiteres deutsches Gebiet. Es blieb vorerst bei einer Diskriminierung der Sudetendeutschen. Arnold Tonybee verglich die Situation 1937 mit der Behandlung der Iren durch England. Womit die englische Politik dort gescheitert war, damit war die Tschechoslowakei hoffnungslos überfordert. Es entwickelte sich in dieser Lage eine Art widerwillige Anerkennung der polnischen Aktionen, die in Prag tiefen Eindruck hinterlassen hatten, wie Bretislav Palkovsky später an Eduard Benes schrieb: "Ich kenne unsere Leute, in der ersten Woche passiert 'etwas', aber dann wird nur in den Kaffeehäusern und Kneipen geschimpft, werden radikale Reden geschwungen und wird Ruhe sein. Das tschechische Volk weiß nicht zu morden, besonders nicht Frauen und Kinder, darüber mache ich mir keine Illusionen. Deshalb muß man schon heute einen Weg zu einem gemeinsamen Leben suchen. Die polnischen Brüder, das ist etwas anderes, die schlagen drei Millionen von ihnen tot wie auf einem Schlachthof. Sie haben es geschafft, 1918/19 eineinhalb Millionen hinauszuwerfen und nach dem 1. September 1939 haben sie etliche Tausend von ihnen verdroschen."

Aber gerade das englische Außenministerium hatte die ethnische Säuberung mit dem türkisch-griechischen Vertrag von 1924 international salonfähig gemacht und so einen neuen Weg eröffnet. Benes akzeptierte dieses Vorbild: "Das Problem der nationalen Minderheiten wird weit systematischer und radikaler erwogen werden müssen als nach dem letzten Krieg. Ich akzeptiere das Prinzip der Bevölkerungsumsiedlung. Bevölkerungen wurden erfolgreich und in großem Umfange zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Kriege von 1922 ausgetauscht...".

Das schrieb Benes im September 1941. Diese Idee hatte aber bereits vor dem September 1939 einen Platz in seinen Plänen. Schon der Lösungsvorschlag der tschechischen Regierung während der Münchener Krise verlangte die Vertreibung von einer Million Deutschen als Gegenleistung für die Übertragung von maximal sechstausend Quadratkilometer Land an Deutschland. Benes skizzierte diesen Plan dem französischen Gesandten in Prag und schickte ihn auch schriftlich nach Paris. Unterhändler Necas solle den Zettel aber vernichten. Der ganze Gedanke sei äußerst gefährlich, und wenn man ihn sorglos loslasse, wäre das eine Katastrophe. Auch dieser "Fünfte Plan" griff auf Vorstellungen zurück, die bereits im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren, als die tschechische Nationalbewegung über einen eigenen Staat nachzudenken begann. Geheimhaltung behielt auch später Priorität, wie Benes Sekretär Smutny in einem Aufruf am 21. August 1939 betonte: "Mit der Säuberung von den Deutschen und den Verrätern sind wir alle einverstanden. Aus außenpolitischen Gründen wird die Regierung Euch jedoch öffentlich zur Rücksicht aufrufen müssen." Die Atmosphäre für solche Sätze konnte erreicht werden, weil es eine große Differenz zwischen den demokratischen Erklärungen aus Westeuropa und dem realen Verhalten gegenüber Deutschland und Osteuropa gab, ergänzt durch das mangelnde Verständnis, das die Politik in London und Paris für die Eigendynamik der dortigen Konflikte aufbrachte. Die vorindustrielle Mischung der nationalen Siedlungsgebiete führte zusammen mit der willkürlichen Grenzziehung von Versailles in den neu geschaffenen Staaten zur Herrschaft kleiner ethnischer Mehrheiten über große nationale Minderheiten. Daraus resultierten ausgedehnte Nationalitätenkonflikte, die den Bestand dieser Staaten nachhaltig in Frage stellten.

Die europäische Politik fand in der Zwischenkriegszeit keinen Weg, diesen Zustand zu reformieren. Sie wäre in diesem Fall zudem mit dem Anspruch der serbischen, tschechischen, vor allem aber der polnischen Führungsschicht kollidiert, mehr zu regieren, als sich ethnisch begründen ließ. Daher wurde in diesen Ländern der status quo ohne Rücksicht auf seine fehlende demokratische Legitimation mit allen Mitteln verteidigt und jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung der Minderheiten als "Verrat" definiert. Die Vertreibungsphantasien, die in den dreißiger und vierziger Jahren vielerorts grassierten, lassen sich nicht unabhängig von der allgemeinen Atmosphäre der Ratlosigkeit verstehen, die durch zwei Jahrzehnte zynischer und antidemokratischer Machtpolitik seitens der großen und kleinen Siegermächte entstanden war. Am Ende wurden diese Konflikte noch radikal zugespitzt und gipfelten 1945 in Grenzziehungen, denen bewußt durch ethnische Säuberungen Dauer verliehen werden sollte.

Fototext: Edvard Benes mit Gattin (1948): Jede Forderung nach Selbstbestimmung als "Verrat" definiert

Dr. Stefan Scheil ist Historiker. Der Text ist ein überarbeiteter Auszug aus seinem nächsten Buch bei Dunker&Humblot. Dort veröffentlichte er zuletzt: Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges (1999) sowie: Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912: eine wahlgeschichtliche Untersuchung.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen