© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Märkische Miniaturen
Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Biographien eines Preußen
Matthias Bäkermann

Vorgelegt hat Ewald Frie seine Biographie über den preußischen Konservativen Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837) als Habilitationsschrift. Derartige, von der sozialdemokratischen Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn inzwischen zur Disposition gestellte akademische Pflichtübungen - im Falle Fries erfolgreich absolviert an der Universität Essen - sollen seit zweihundert Jahren die Qualifikation zum Hochschullehrer nachweisen, indem sie der gelehrten Welt einen merkbaren Erkenntnisgewinn bescheren. Ob der kleine Kreis potentieller Leser solcher Arbeiten, nämlich die 300 Fachgenossen, die sich professionell mit der preußischen Geschichte zwischen dem TodFriedrichs des Großen (1786) und dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters befassen, Fries Einsichten wirklich als Fortschritte der Forschung betrachten, mag man bezweifeln. Dafür ist dem Autor aber etwas gelungen, was in der Regel gar nicht Sinn solcher fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit sich vollziehenden akademischen Initiationsriten ist: Frie hat ein für den historisch gebildeten Laien höchst lesbares und lesenswertes Buch geschrieben.

Es beginnt mit einer Geschichte der Marwitz-Legenden, der aktualisierenden Vereinnahmungen des Generals und Standespolitikers, Freikorpsführers und Gutspatriarchen. Der Untertitel von Fries Werk enthält insoweit keinen Druckfehler: hier wird ein Leben quellennah und materialreich in "Biographien eines Preußen" zerlegt. Damit ist natürlich auch ein Abschied von dem Marwitz-Bild verbunden, daß der Friedersdorfer Junker selbst der Nachwelt von sich und seinem Geschlecht einprägen wollte und das gebunden ist an den berühmten Grabspruch auf dem Gedenkstein für seinen Onkel: "Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen Kriegen; wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."

Mit Hilfe des märkischen Wanderers Theodor Fontane, für dessen Berndt von Vitzewitz ("Vor dem Sturm") und Dubslav von Stechlin Marwitz Modell stand, formte sich so im "Gedächtnis des deutschen Bildungsbürgertums" eine idealtypische Figur, die kaum etwas mit der historischen Gestalt zu tun hat. Frie bringt hier seine Korrekturen bereits in einem einleitenden, kurzen Gang durch die Geschichte der Deutungen und politisch motivierten Vereinnahmungen an, die ihren Schlußpunkt nach 1933 fanden, als der Aristokrat noch ebenso eilig wie unglaubwürdig als Kämpfer gegen "Westlertum" und "staatsfeindliches Judentum" herausgeputzt wurde, um den Schulterschluß zwischen preußischem Konservatismus und Nationalsozialismus historisch zu drapieren.

Seine eigentliche Leistung erbringt Frie dann mit der ersten umfassenden, aller legendären Ummantelung und jeder politischen Instrumentalisierung abholden Biographie des preußischen Edelmanns. Sie weist den geborenen "Westler" des Jahrgangs 1962 als exzellenten Kenner der preußischen Geschichtsquellen aus, der aus dem im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam verwahrten Familienarchiv schöpft und sich zu den entferntesten Winkeln heimatkundlicher Literatur durchgelesen hat. Nach der Lektüre des Kapitels über "Dorfgesellschaft, Gutsherrschaft und Agrarwirtschaft", die uns aktenkundig mit Finanztransaktionen, Getreidepreisen, Viehseuchen und den Vor- und Nachteilen von Dreifelder- und Fruchtwechselwirtschaft vertraut macht, möchte man Fries beinahe empfehlen, umzusatteln und selbst die Leitung eines Rittergutes in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich würde er sich nach seinen langen militärgeschichtlichen Studien auch zur Führung eines Kürassierregiments eignen, dessen Organismus er für uns en detail am Beispiel des Eliteregiments Gends'armes seziert.

Diese Mikroanalysen haben freilich ihren Preis. Der Leser erfährt viel Neues über Marwitz und Friedersdorf und gewinnt in höchst anschaulicher Weise Einblicke in die Geschichte von unten, obwohl hier ein Repräsentant der preußischen Oberschicht porträtiert wird. Insoweit ergänzt Fries Fontane in einer Weise, die den jetzt durch ihn eingehend instruierten Marwitz-Kenner dessen "Wanderungen" vielleicht als historisch unzulänglich empfinden läßt. Bezüglich Marwitz ist also ein Forschungsfortschritt gelungen, nicht aber für die Handlungsräume, in die Fries seinen Helden stellt.

So erweitert Marwitz' Leben nicht unsere Kenntnis der preußischen Geschichte, die er zwischen Jena/Auerstädt und dem Befreiungskrieg mit seinen Plänen des "Volkskrieg" am Rande mitgestaltet hat. Ebensowenig bereichert er unser Wissen über die Militär- und Wirtschaftsgeschichte, den Frühkonservatismus, die innere Entwicklung Preußens bis in die Zeit nach den Karlsbader Beschlüssen, wie wir sie aus Reinhart Kosellecks fundamentaler Arbeit über "Preußen zwischen Reform und Revolution" seit langem kennen. Besonders deutlich wird dies in Fries' Ausführungen im Kapitel "Militär, Gesellschaft und Krieg". Diesen Komplex erschließt sich der Autor ausschließlich anhand neuer mentalitätshistorischer, mitunter als "Historische Anthropologie" sich spreizender Zugriffsweisen auf die im Militär "organisierte Tötungsgewalt", ohne daß er die empfangenen Anregungen mit neuen, an Marwitz' Karriere als Soldat und Kriegsdenker gewonnenen Einsichten vergelten könnte. Nicht einmal das Versprechen, Clausewitz' Kriegsphilosophie mit den Ideen seines "militärtheoretisch weniger ambitionierten, aber kriegspraktisch weitaus erfahreneren Schwagers Marwitz" in Beziehung zu setzen, löst Fries ein. Auch das sehr umfangreiche Kapitel über den Standespolitiker Marwitz ist zwar wieder als regionalhistorische Miniatur gelungen, vermittelt aber keine neuen Einsichten in den Konflikt zwischen monarchischem Absolutismus und ständischem "Anarchismus". Aber das dürfte nur die Historikerzunft ihrem neuen Kollegen vorhalten. Der historisch gebildete Laie bleibt indes dankbar für Fries' gelehrte Variante einer märkischen Wanderung durch die preußische Geschichte.

Bildtext: Friedersdorf zu Anfang des 19. Jahrhunderts: Dorfgesellschaft, Gutsherrschaft und Agrarwirtschaft

Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777-1837. Biographien eines Preußen, Schöningh Verlag, Paderborn, 382 Seiten, Abb., 35,80 Euro.


 
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