© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Mit Würde behauptet
Bildende Kunst: In seinem Werk nimmt Wolfgang Mattheuer Abschied von der Utopie
Doris Neujahr

In seinem 1988 gemalten Bild "Ausbruch" nahm Wolfgang Mattheuer vorweg, was ab 1989/90 in der DDR geschehen sollte: Durch die aufgesprengte Tür eines drangvoll engen Raumes stolpern Menschen ängstlich ins Freie, sie zögern, schmiegen sich aneinander und ziehen sich wieder halb in die Gefangenschaft zurück. In ihren Gesichtern sitzt das Erschrecken darüber, was sie hinter sich gebracht haben, aber auch über die Ungewißheit, was ihnen bevorsteht. Dieses politische Psychogramm traf die Situation im Land genauer als die meisten politischen Analysen jener Zeit und führte konkretes Verhalten auf menschliche Grundkonstellationen zurück. Der "Ausbruch" steht beispielhaft für Mattheuers Kunst, in der gesellschaftskritische, antizipatorische und archäologische Bedeutungsebenen fließend ineinander übergehen.

Wolfgang Mattheuer, am 7. April 1927 als Sohn eines Buchbinders im vogtländischen Reichenbach geboren, studierte nach einer Lehre als Lithograph, Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo er zuerst Assistent war, ab 1956 Dozent und seit 1965 Professor. Zur öffentlichen Person wurde er mit der 7. Kunstausstellung des Bezirks Leipzig 1965. Sein Gemälde "Kain" zeigte die biblische Brudermordszene vor dem Hintergrund einer modernen Stadt. Die Annahme lag nahe, daß es sich um eine künstlerische Adaption der Zwei-Staaten-Konstellation in Deutschland handelte. Mit seinen Kollegen Bernhard Heisig und Werner Tübke wurde Mattheuer fortan zur "Leipziger Schule" gerechnet, die die Malerei der DDR bis zum Schluß prägen sollte.

Um die Hoffnungen der Künstler in jenen Jahre zu verstehen, muß man sich die kulturpolitischen Umstände vergegenwärtigen. Der Partei- und Staatschef Walter Ulbricht war ein brutaler Machtpolitiker, aber auch mit wachem Instinkt für das Wünschenswerte und Machbare ausgestattet. Nach dem Mauerbau ließ er für die Literatur, den Film und die Bildende Kunst eine Art Tauwetter zu. Zahlreiche Werke entstanden, in der die Konflikte, Bruchlinien und Erbschaften der Gesellschaft offen benannt wurden und deren Relevanz über die DDR-Grenzen weit hinausreichte. Ende 1965 war es damit wieder vorbei. Erst als 1989 die Archive und Giftschränke geöffnet wurden, erfuhr ein ungläubiges Publikum, daß für einen kurzen Moment tatsächlich die Chance einer kulturellen Alternative zum Westen bestanden hatte.

Mattheuers Bilder büßten auch danach nichts von ihrer Vitalität ein. Er stellte weiterhin mythologische Zitate inmitten von Alltagsszenerien und verband Innerlichkeit mit physischer Expressivität. Seine Werke sind gänzlich frei von der Verdruckstheit, die so vielen Bildern von DDR-Künstlern eigen ist. Sein Grundthema wurde der Abschied von der Utopie - sein eigener Abschied.

Der 1981 geschaffene Linolstich "Prometheus verläßt das Theater" bezieht sich auf die mythische Ikone sämtlicher Fortschrittsideologen. Mattheuers Prometheus verläßt fluchtartig sein brennendes Zimmer. Der Schrank ist ausgeräumt, die Ideen und Irrümer sind verbraucht, der alte Plunder bleibt zurück. Ein Aussteiger sagt dem Staatstheater adieu. Seinen Austritt aus der SED 1988 legte Mattheuer sinnfällig auf den 7. Oktober, den Gründungstag des maroden Landes. In seiner Austrittserklärung schreibt er unter anderem: "Ich kann nicht jubeln und kann auch nicht Ja sagen, wo Trauer und Resignation, Mangel und Verfall, Korruption und Zynismus, wo bedenkenloser, ausbeuterischer Industrialismus so hochprozentig das Leben prägen und niederdrücken und wo programmatisch jede Änderung heute und für die Zukunft ausgeschlossen wird. (...) Ich kann das Gewordene nicht anders sehen und bezeichnen."

Sein populärstes Werk ist die Großplastik "Der Jahrhundertschritt" (1984/87): Die linke Hand der Figur ist zur kommunistischen Faust geballt, die Rechte zum Hitler-Gruß ausgestreckt. Das abgeknickte linke Bein markiert den Untertanen, das gestreckte rechte den marschierenden Eroberer. Das Werk hat mehrere Metamorphosen durchlaufen, zu denen unter anderem die Gemälde "Verlorene Mitte" und "Verlust der Mitte" (1981/82) gehören. Ihre doppelt hintersinnigen Titel spielen auf den Klassiker "Verlust der Mitte" des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr an. Sedlmayr hatte den künstlerischen Abstraktionismus als Fortsetzung einer mit der Französischen Revolution eingeleiteten Dehumanisierung attackiert und war zum Lieblingsfeind der fortschrittlichen Künstler im Westen avanciert.

Mattheuers Werkreihe implizierte also auch eine Kritik der herrschenden Kunstrichtung im Westen und des Kinderglaubens, die avantgardistische Moderne sei der natürliche Gegner totalitärer Ideologien. Er stieß ein Thema an, das erst mit der Berliner Jahrhundertausstellung "Die Gewalt in der Kunst" breit erörtert werden sollte.

Auf dieser 1999 eröffneten Austellung war Mattheuer nicht vertreten. Nach dem Zerfall der DDR wurde den Malern der "Leipziger Schule" vorgeworfen, sie seien "Staatskünstler" gewesen. Dieser Begriff ist überaus ambivalent: Er kann darauf abzielen, daß herausragende Künstler Kraft ihres Formats tatsächlich Maßstäbe und Orientierungspunkte für die Kunst setzen, die innerhalb eines Staates geschaffen werden und die dadurch auch Repräsentanten dieses Staates werden. Der Staat wird natürlich versuchen, durch Ausstellungen im In- und Ausland und durch die Erteilung von Aufträgen an ihrem Renommee zu partizipieren. Diese Bevorzugung kann den Künstler korrumpieren, sie kann aber im Gegenteil auch seinen künstlerischen Freiraum vergrößern. In diesem komplizierten Spannungsfeld haben Künstler sich zu allen Zeiten befunden. Wolfgang Mattheuer jedenfalls hat sich in ihm bewährt. Genau das aber wurde demagogisch in Abrede gestellt: Er wurde als - talentloser - Paladin und Propagandist der SED denunziert.

Die Kampagne blieb nicht ohne Folgen: In der umfassenden Kunstausstellung "Deutschlandbilder", die 1997 im Berliner Martin-Gropius-Bau stattfand, wurden die Bilder von Mattheuer, Heisig, Tübke und anderen in einem kleinen Nebengelaß separiert, als handele es sich um Unanständigkeiten.

Mattheuer hat sich gegen diese Perfidien mit Würde behauptet und darauf verwiesen, daß es neben dem ideologischen Konformismus auch den des Kunstmarktes gibt. Er hat den konfektionellen Zuschnitt, die monumentale Leere und die illusionäre Freiheit in der westlichen Kunstproduktion und den deutschen Nationalmasochismus kritisiert, der ebenfalls eine Quelle des gegen ihn verspritzten Giftes ist.

An seinem 75. Geburtstag am vergangenen Sonntag wird er festgestellt haben, daß seine Gegner leiser geworden sind. Im Grunde sind sie unwichtig, denn sein Werk ist zu groß, um von ihnen verkleinert werden zu können.

Bildtext: Wolfgang Mattheuer, "Verlorene Mitte" (Linolstich 1981): "Ich kann das Gewordene nicht anders sehen"

 Von Wolfgang Mattheuer ist soeben unter dem Titel "Aus meiner Zeit" ein Tagebuch erschienen (Hohenheim, Stuttgart, 246 Seiten, Abb., 24,80 Euro). Eine große Mattheuer-Ausstellung ist ab 21. Juli 2002 in den Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen.


 
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