© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Das Jahrtausendgenie
Denker, Forscher, Architekt, Maler: Zum Gedenken an Leonardo da Vinci
Magdalena S. Gmehling

Bis heute umweht eine Aura des Geheimnisvollen, ein Persönlichkeitszauber ohnegleichen, die Gestalt Leonardo da Vincis. Weniges wissen wir sicher. Giorgio Vasaris Lebensbeschreibung, die auf die Aussagen eines florentinischen Anonymus zurückgeht, ist unverzichtbar, ferner das Werk Jean Pauls und die Arbeit von Edmondo Solmi.

Geboren wurde der große Künstler 1452 in dem Bergnest Anchiano bei Vinci als Sohn des Notars Ser Piero und des Bauernmädchens Catarina. Leonardo wuchs naturverbunden auf und erhielt vermutlich die übliche Ausbildung der Bürgersöhne. Er selbst nennt sich allerdings des öfteren senza lettere (ohne Bildung). Jedenfalls scheint er sich einen Großteil seines immensen Wissens selbst angeeignet zu haben. Seine Mailänder Aufschreibebücher zeugen von intensiven Sprachstudien und in den Notizheften von 1480-1500 lesen wir z. B.: "laß' dir vom Rechenmeister zeigen, wie man ein Dreieck in ein Quadrat zurückverwandelt", "lerne bei Magister Luca die Multiplikation der Wurzeln" usw. Sein ruheloser Intellekt beschäftigt sich in einer fast unheimlichen Intensität mit allen auftauchenden Problemen, Rätseln und Techniken.

Leonardos Vater erkannte offenbar die Begabung des Sohnes und trug eines Tages etliche Zeichnungen zu dem befreundeten Andrea del Verrocchio, diesen dringend um sein Urteil bittend. Der Meister staunte über die "gewaltigen Anfänge", und so kam Leonardo in dessen Werkstatt. Nachweislich entstanden während der Lehrjahre die Palla von Santa Maria del Fiore, ein konstruktives Meisterstück, ferner der David aus Bronze. Die Taufe Christi (Florenz, Akademie) zeigt neben den von Andrea komponierten Hauptfiguren einen Engel Leonardos. Verocchio erkannte in dieser Gestalt eine so überragende Kunstfertigkeit, "daß er niemals mehr die Farben berühren wollte, weil ein Kind mehr davon verstehe als er selbst."

Vieles aus dieser Frühzeit ist spurlos verschwunden, blieb fragmentarisch oder zweifelhaft hinsichtlich der Urheberschaft. Um 1480 wird erstmals erwähnt, Leonardo habe eine casa sua, also Wohnung und Werkstatt für sich gehabt. Um 1481 scheint wenigstens skizzenhaft die Adorazione (Anbetung der Könige) entstanden zu sein, unvollendet und nur untermalt, wie viele seiner Werke. Heute befindet sich das Tafelbild, zu dem auch Entwürfe existieren und das einen Markstein in der modernen Malerei darstellt, in den Uffizien. Anfang der achtziger Jahre geht Leonardo nach Mailand an den Hof des Herzogs Francesco Sforza.

Ludovico Moro (Maurus), der Sohn des Francesco Sforza, eine zeittypische fürstliche Charakterfigur, ist von nun an sein Auftraggeber. Mailand gilt als geistig kultureller Brennpunkt. Scharen von Hofpoeten, Humanisten, begabten Kavalieren und Geschichtsschreibern bevölkerten die üppige Gesellschaft, unter ihnen der Übersetzer des Herodot, Lorenzo Valla.

Nur teilweise erforscht ist die Geschichte der Bauten zwischen 1472 und 1499, die auf Leonardo, den Architekten, zurückgehen. Jedenfalls scheinen die Pläne zu einer utopischen, schönen, gesunden, mittelgroßen Stadt unmittelbar nach der schrecklichen Pest 1484/85 entstanden zu sein. Aufzeichnungen Leonardos, die nach orientalischer Art von rechts nach links geschrieben sind, liegen in sechs Foliobänden im Institut de Frace in Paris vor, in der großen Prachtausgabe des Codex atlanticus der Ambrosianischen Bibliothek und im Codex des Hauses Trivulzio in Mailand.

Im Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen, Bd. XVIII, existiert ein Brief des florentinischen Geschäftsträgers zu Mailand, Piero Almanni, vom 22. Juli 1489, in welchem dieser das von Leonardo da Vinci auszuführende Reiterstandbild des Herzogs Francesco Sforza (des Vaters Ludovicos) erwähnt. Der Brief ist an Lorenzo Medici gerichtet. Es heißt darin: "Und weil er eine Sache in superlativem Grade machen will, hat er (der Moro, M.S.G.) mir gesagt, ich solle Euch, für sein Teil schreiben, daß er wünsche, Ihr möchtet ihm einen Meister oder zwei senden, geeignet zu solchem Werke. Denn obwohl er die Sache Leonardo da Vinci übertragen, scheint es mir nicht, er sei getrost, daß der sie auszuführen vermöchte."

Diese Ahnung hat sich bewahrheitet. Zwölf Jahre lang arbeitete der Künstler an dem siebeneinhalb Meter hohen Koloß. Die Ausführung in Bronze kam nie zustande. Es existieren mehrere Entwürfe. Der Codex atlanticus zeigt ein prachtvoll lebenssprühendes Modell in roter Kreide aus dem Jahre 1490. Etwa in diese Zeit fallen die Vorarbeiten für das von vielen Geheimnissen umwitterte und anekdotenreich beschriebene "Abendmahl" im Dominikanerkloster St. Maria delle Grazie.

Die Abendmahlidee beschäftigte den rastlos tätigen Geist Leonardos jahrelang. Im Louvre werden Skizzenblätter mit Erzählszenen aufbewahrt. Sie variieren das Thema von Jünglingen, Männern und Greisen, die um einen Tisch versammelt, etwas Erschütterndes vernehmen. Glaubhaft wird berichtet, Leonardo habe oft in ungeheurer Erregung die Arbeit am Reiterstandbild verlassen, um im Kloster der Predigermönche ein paar Striche an seinem grandiosen Werk anzubringen. Dann wiederum habe er Tage lang grübelnd den Pinsel nicht zur Hand genommen und nur geschaut, überlegt, geprüft. Wenn es ihn aber "überkam", konnte er, ohne zu essen und zu trinken, selbstvergessen, von der aufgehenden Sonne bis zum verdämmernden Abend malen.

Seine wissenschaftliche Wißbegierde und den akribischen Forschergeist belegt eine Begebenheit, die er selbst im seinem Buch über die Anatomie (1489) beschreibt. Im Hospital Santa Maria Nuova habe er wenige Stunden vor dessen Tod einen Greis getroffen, der behauptete, über 100 Jahre alt zu sein und an seiner Person gar keine Ermangelung (mancamento) zu spüren und alsbald sanft verschied. Leonardo fährt fort: "Und ich machte seine Anatomie, um den Grund so sanften Todes zu sehen, der ohnmächtig ward wegen Mangels von Blut in den Venen und Arterien, so das Herz und die andren untergeordneten Glieder (Organe) des Körpers ernährte, die ich vertrocknet, abgezehrt und dürr fand ... Die andere Anatomie war die eines Knaben von zwei Jahren, in welchem ich jede Sache entgegengesetzt der des Greises fand." Der Künstler betrieb also - was für seine Zeit unglaublich war - vergleichende Anatomie und zeichnete anatomische Tafeln nach menschlichen Präparaten.

Leonardo da Vinci, der Ausdrucksmaler, war einer der ersten, der die Ölmalerei mit der Temperamalerei vertauschte. Auch hier scheint ihn eine ungeheuere Lust am Experimentieren getrieben zu haben. Tragisch wirkte sich dies für sein grandioses Abendmahl aus. Wir wissen heute, warum diese Kostbarkeit zugrunde gegangen ist. Die Beschaffenheit der Mauer, mancherlei Unbilden der Zeit und die Technik, in der es ausgeführt ist, tragen die Schuld. Noch in Mailand entsteht auch das vielgerühmte Bildnis der Felsgrottenmadonna.

Als die Franzosen unter Ludwig XII. 1499 einrücken und sich die Katastrophe der Moro abzeichnet, verläßt Leonardo Mailand. Wieder wendet er sich um 1500 nach Florenz. Hier nun entsteht im Verlauf von vier Jahren das Bildnis der Mona Lisa, der Neapolitanerin Gherardini, der dritten Gattin des Florentiners Francesco del Giocondo. In diesem Werk ist der Maler selbst unsterblich. Immer wieder hat man darauf hingewiesen, daß dieses geheimnisvolle Antlitz, in dem aufblühende Hoffnung und spöttisch wissende Entzauberung so nahe beieinander liegen, eigentlich Leonardo da Vincis eigene Züge tragen. Die Gioconda ist der Spiegel seiner tiefen Seele. Alle Frauengesichter, die er je malte, seien es jenes der Cecilia Gallerani oder jenes der hl. Anna Selbdritt, erscheinen als eine Art Vorstufe dieser Anmut.

Mancherlei Unbilden suchen den Rastlosen heim. Verwickelt in Erbschaftsstreitigkeiten und in eine Auseinandersetzung mit dem ungeliebten Rivalen Michelangelo Buonarroti, findet er nicht die Kraft, die "Schlacht von Anghiari" im Palazzo Vecchio zu vollenden. Auch mißglückt ein Flugexperiment auf dem Monte Ceceri in Fiesole. So geht er 1507 wieder für kurze Zeit nach Mailand. Hier reift sein Werk über Erdgeschichte, er stellt Untersuchungen über die Sprache an und widmet sich hydraulischen Arbeiten, der Entwurf einer Leda mit dem Schwan scheint ebenfalls hier entstanden zu sein.

Als am 13. Mai 1513 Giovanni Medici als Leo X. den päpstlichen Stuhl besteigt, beruft dieser durch seinen Bruder Leonardo in seine Nähe. Der Aufenthalt wird zu einem Fiasko. Intrigen, Mißverständnisse und eine wachsende Entfremdung zu der ihn umgebenden Welt verleiden dem alternden Künstler den Aufenthalt in der Ewigen Stadt. Als es im Dezember 1515 zu einer Begegnung des Papstes und König Franz I. kommt, scheint der Franzose Leonardo da Vinci in seinen Dienst genommen zu haben. Genaues ist nicht überliefert. Jedenfalls reist der berühmte Künstler in das Schloß Cloux in der Touraine, nahe bei Ambois. Ambois gilt als Gegenpol zur Residenz Paris. Der König weist 700 Taler jährlichen Gehalts an.

Noch einmal flammt Lenoardos Genie auf. Er entwirft Skurrilitäten für die glänzenden Feste des Königs. So jenen Löwen, der auf den Herrscher zuschreitet und vor diesem, mit einer Rute berührt, die Brust öffnet, in deren Innerem man eine Lilie erblickt. Er legt Pläne vor für das ausgeklügelte und erst in moderner Zeit Wirklichkeit gewordene Kanalsystem, des Kanals von Romorantin.

Der Alleskönner Leonardo, dessen Lebenssehnsucht es war, mit dem Vogel die Lüfte zu teilen, rüstet sich zum letzten Flug, jenem ohne Wiederkehr. Mit minutiöser Genauigkeit hat der Notars-sohn, der es gewohnt war, jede Begebenheit schriftlich festzuhalten, sein Testament aufgezeichnet. Alle Instrumente und Porträts hinterließ er dem treuen Francesco da Melzo, gedenkt aber auch seiner leiblichen Brüder und all seiner Diener. Er ordnete die Seelenmessen und üblichen frommen Stiftungen und wünschte in der Kirche des hl. Florentinus zu Ambois bestattet zu werden.

Am 2. Mai 1519 stirbt Leonardo da Vinci. Als Philosoph und Künstler hat er eine neue Hinwendung zur Natur gelehrt. Der ungeheueren Phantasie entsprach ein außergewöhnlicher Verstand und eine fast franziskanische Liebe zu aller Kreatur. Wenngleich vieles heute als überholt gilt, so kann man sich der atemlosen Bewunderung für die Weite dieses umfassenden Geistes nicht entziehen.


 
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