© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Jeder an seinem Platz
von Hans-Jürgen Hofrath

Die über problematische Aspekte von Wirtschaftspolitik und Globalisierung verfaßten Abhand lungen dürften mittlerweile wohl ganze Bibliotheken und Medienarchive füllen. Insbesondere wird über die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wie Europas eindringlich räsonniert. Vor allem in rezessiven Phasen wie zur Zeit gewinnen derartige Fragestellungen nicht zu Unrecht an Schärfe. Umso dringlicher sollten neben den vom Mainstream (von der Bild-Zeitung über Sabine Christiansen bis hin zur seriösen Wirtschaftspresse) hinlänglich strapazierten Argumentationslinien auch "politisch unkorrekte" Fragestellungen und Antwortversuche ohne Tabus in den Blick genommen werden.

Freilich ist und bleibt es ja nicht unzutreffend, auf nationaler wie europäischer Ebene politikfähige Konzepte zu entwickeln für: zusätzliche steuerliche Entlastungen, Rückführung der Staatsverschuldung, verbesserte Förderbedingungen für Existenzgründer, qualitativ bessere Aus- und Fortbildung, Reduzierung bürokratischer Hemmnisse, Exportoffensiven, Belebung der Binnennachfrage, Stärkung der Eigenkapitalbasis mittelständischer Unternehmen, Arbeitsmarkt-Deregulierung, Infrastruktur-Ausbau etc. Im Weltmaßstab betrachtet, kann dies durchaus bedeuten, über eine Neuauflage von Bretton-Woods durch etwaiges Koppeln der Weltleitwährungen Dollar, Euro und Yen, die Einrichtung von Weltkartellbehörden, bessere Frühwarn- und Krisenmechanismen seitens zu reformierender Institutionen wie Weltbank und Währungsfonds sowie über eine Devisenspekulationssteuer à la Tobin nachzudenken.

Primär die Tobin-Steuer - benannt nach ihrem Urheber, dem keynesianisch orientierten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Tobin - ist in jüngster Vergangenheit verstärkt wieder ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion gelangt. Dies ganz im Zeichen der Globalisierung. Geht es hierbei doch um die Besteuerung kurzfristig angelegter, in spekulativer Absicht privat getätigter Devisen-Transfers ins Ausland. Grund: derartige Finanz-Transfers haben maßgeblich dazu geführt, ganze Volkswirtschaften (vgl. Sudostasien-Krise) zu destabilisieren. Steuergläubiger könnten - so die Zielvorstellung der Protagonisten - die Weltbank oder der Internationale Weltwährungsfonds sein: Sie sollten diese Mittel dann für die Stützung finanziell ins Wanken geratender Staaten einsetzen. Was aber verständlicherweise erst dann Sinn haben wird, wenn zumindest alle weltwirtschaftlich bedeutsamen Staaten diese Steuer erheben würden, und das ist derzeit nicht ersichtlich.

Unbestreitbar richtig ist darüberhinaus, daß besonders in Deutschland - derzeit Schlußlicht der Europa-Liga in der Disziplin "Wirtschaftswachstum" - zusätzliche Steuersenkungen, niedrige Zinsen und strukturelle Reformen vonnöten sind, um im rauhen internationalen Wettbewerb wieder an Boden und Zukunftsfähigkeit zu gewinnen. All dies wurde und wird in der Medienöffentlichkeit mit mehr oder weniger Sachverstand in einschlägigen Talkrunden breitgetreten.

Gleichwohl, solche rein quantitative Größen sind nicht die allein seligmachenden Parameter, um den prekären Zustand einer zunehmend an Kontur gewinnenden "Minusgesellschaft" zu verlassen: Vertrauen in die Zukunft und innovative Produkte für Gewinn verheißende neue Märkte jedenfalls sind nötiger denn je. Was wiederum mitnichten im voraussetzungsfreien, luftleeren Raum begründet liegt. Vielmehr beruht dies maßgeblich auf einem ökonomischen Wertefundament und auf traditionellen Erfolgssäulen wie Erfindungen, Bildungsbürgertum, Risikokapital und Konzentration. Dezidiert hervorzuheben ist hierbei die Erschließung sogenannter "innerer Leistungsquellen". Vor allem dem Faktor Kreativität ist im ökonomisch-materiellen Vorfeld wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht erst die PISA-Studie hat auch hier horrende Defizite bloßgelegt. Ein "ziehender Geist" muß wieder neue Ideen liefern, um auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse einwirken zu können. Dies aber nicht in Gestalt vorsätzlich verdummender, lediglich noch auf Geschlechterkampf, Konsum, Trieberregung, Gewaltpropagierung und übelster Gossensprache hin angelegter Steuerung der Massen durch die Medien. Medien, die ihren Auftrag in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung (die diese Bezeichnung auch verdient) entweder gründlich mißverstehen oder aus böswillig-geschäftssüchtiger bzw. manipulatorischer Absicht heraus bewußt mißbrauchen. Der Ex-Berater von US-Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, spricht in diesem Zusammenhang ebenso exemplarisch wie treffend vom sogenannten "tittitainment": der Unterhaltung von in der globalisierten Produktion überflüssig gewordener Proletarier. Die im antiken Rom so geflissentlich gepflegte Attitüde von "Brot und Spiele" für das Volk läßt hier durchaus Parallelen ziehen. Daß dabei eine wissenschaftlich belegte Kreativitätszerstörung durch die (mangels elterlicher Zuwendung) mediale Ersatzerziehung primär Kinder und Jugendliche betrifft, leuchtet ein. Welche realen Chancen kann man heutigen Pädagogen allen Ernstes noch einräumen, gegen die mediale Reizüberflutung der Schüler anzugehen? Ganz nebenher wird das für spätere Kreativleistungen so wichtige familiäre Geborgenheitsgefühl den Kindern heute bereits in frühen Entwicklungsstadien dadurch vorenthalten, daß Erziehungsleistungen in Kinderkrippen und -tagesstätten outgesourct werden. Um so der feministisch geheiligten Selbstverwirklichung der Frau absolutistisch zu huldigen. Lese- und Schreibschwächen sowie sich häufende Aggressivität, Konzentrationsschwächen und Hyperaktivität sind schwerlich Zufallsphänomene. Wird doch das nicht zu Unrecht strapazierte Prinzip der "Nachhaltigkeit" (in den Bereichen Umweltschutz und Staatsverschuldung) hier, wo es mindestens ebenso um konkrete Zukunftsgestaltung geht, aus ideologischen Gründen aufs Sträflichste vernachlässigt. Eine typische "Falle des Kurzzeitdenkens", um mit Irenäus Eibl-Eibesfeld zu sprechen. Was in progressiven Ohren klingen mag wie platteste, konservative Kulturkritik, ist nicht weniger als die Postulierung einer umfänglichen Verantwortungsethik und -ökonomie als dem Gebot der Stunde.

Mehr als kritikwürdig ist zudem das im medial-gesellschaftlichen Diskurs nicht seltene Hochstilisieren von "Nebenkriegsschauplätzen" zu nationalen Schicksalsfragen: Politisch vordringliche Problemerörterungen geraten bisweilen in geradezu grotesk anmutender Weise gegenüber hyperdramatisierten Sujets wie "GleichgeschlechtlichePartnerschaft", "Vergewaltigung in der Ehe", "sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz", "Frauen in die Bundeswehr" oder Aufwertung des Prostituiertenberufs in den Hintergrund. Abseitiges wird - den herkömmlichen Mechanismen einer Mediokratie folgend - zuerst eindringlich im öffentlichen Bewußtsein und der allgemeinen Wahrnehmung verankert, bis in Phase zwei Politik und Justiz gar nicht mehr anders können als just diese Felder zum Schwerpunkt ihrer Agenda zu machen. Offensichtlich maßen sich bei uns die Medien zunehmend die einstmalige Rolle der omnipotenten "Partei" im Leninschen Sinne an: die Partei und nur sie hat für die Verbreitung der allein richtigen Theorie zu sorgen. Gerade hier wäre gegen lautstark missionarische pressure groups mehr Augenmaß hilfreich für die Schaffung des richtigen öffentlichen Problembewußtseins.

Eine ebenso bedeutsame wie im Diskurs kaum erörterte Frage ist die treffsichere Identifizierung persönlicher Talente und Neigungsprofile etwa bei Jugendlichen oder Arbeitslosen. Wäre dies doch für die Zuordnung der so gewonnenen Fähigkeitsprofile zu spezifischen Berufsbildern und damit auch für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung von großer Tragweite. Nach dem Motto "Der richtige Mensch am richtigen Platz" ließen sich berufliche Fehlentscheidungen vermeiden. Heute erfolgt die Auswahl gar nicht, zu wenig oder zu spät. Man bedient sich des Prinzips von "trial und error" und legt das Schicksal von Jugendlichen in die Hände des Zufalls. Spätere Korrekturen sind dann unmöglich oder zumindest sehr schmerzlich. Und nicht zuletzt schädlich für die Volkswirtschaft.

Es wird in der Diskussion nicht genügend berücksichtigt, daß die Aufgabe einer Bildungspolitik sich grundlegend gewandelt hat. Solange der Staat sich noch mit bestimmten Idealen identifizierte, wurden in den öffentlichen Schulen und Hochschulen entsprechende Ziele angepeilt. Das reichte von den Zwergschulen im Preußen des 18. Jahrhunderts, wo der Geist des Alten Fritz mit Fleiß, Ordnung und Sauberkeit herrschte, bis hin zu den sozialdemokratischen Gesamtschulen der Siebziger Jahre, die "Kritikfähigkeit" und "Selbstbewußtsein" für oberste Werte hielten. Mit dem Selbstbewußtsein ist die pädagogische Verbreitung so gut gelungen, daß heute keiner mehr interessiert ist an Sozialkunde oder "Problematisierung von gesellschaftlichen Inhalten", wie man das damals nannte, sondern die Kids nur noch Spaß haben wollen. Das ist kein böser Wille und nicht einmal Ergebnis einer schlechten frühkindlichen Erziehung, sondern ganz einfach Ausdruck der Realität. Es gibt keine verbindlichen Ziele mehr, auf die hin erzogen werden könnte. Die humanistischen Ziele, die einst die sogenannte humanistische Bildung trugen, sind prinzipiell erreicht. Demokratie, Egalität, Aufklärung, persönliche Freiheit sind vorhanden und harren nun der Ausfüllung durch das Individuum. Genau das wird in der gegenwärtigen Bildungspolitik versucht: jedem einzelnen die Möglichkeit geben, sich in der Gesellschaft zu verwirklichen. Die Kinder sollen nicht allgemeine Werte kennenlernen, sondern private Möglichkeiten. Bis dahin ist unsere vielgeschmähte Chaos-Schule durchaus "realistisch". Sie neigt jedoch dazu, einen wichtigen Faktor zu übersehen. Die Chancen des Individuums, wenn es auf sich allein gestellt wird, sind abhängig von der Teilnahme an zweckgerichteten abstrakten Tätigkeiten, die es dann eben doch für die Gemeinschaft ausführt, nur nicht direkt, sondern vermittelt über das Geld.

Sicher haben die Leute im 19. Jahrhundert auch Geld verdienen müssen. Doch es gab außerdem andere feste Bezüge, in denen sie mit ihren Mitmenschen standen: Familie, Dorf, Gemeinde, Partei, Militär usw. Für alle diese Aufgaben sollten die Menschen erzogen werden. Heute ist idealtypisch - wenn alle Abhängigkeiten abgebaut sind - der einzelne nur noch über das Geld mit seiner Gemeinschaft verbunden. Es braucht jemand nie eine Beziehung zu irgendjemand zu unterhalten, wenn das Geld stimmt, braucht dies gar keinem aufzufallen. Die einzige Qualifikation, die in Schule und Universität heute zu vermitteln ist, besteht in der Fähigkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Da wundert es einen nicht, wenn Jugendliche, die durch Prostitution und Kriminalität längst mehr verdienen als ihre Eltern, den Schulbesuch als überflüssig ansehen. Zumal Abschlüsse und Examina durchaus keine Garantie sind, sondern bloß Voraussetzungen, einen bestimmten Weg einzuschlagen, "Lernangebote", wie man heute sagt. Die Schule als "Dienstleistungsunternehmen" könnte die liberale Zielvorstellung sein.

Für eine konservative Kritik ist es ungünstig - was noch häufig geschieht - die Humboldtschen Bildungsideale gegen die emanzipatorischen Ansprüche der 68er auszuspielen. Auch Humboldt ist der Aufklärung und damit dem europäischen Fortschrittsdenken verpflichtet. Vernunft und Humanität sind die Grundanliegen jeder neuzeitlichen Bildungskonzeption - inklusive der "Antiautoritäten". Der wirklich beunruhigende Gegensatz besteht zwischen Bildung einerseits und der rein technischen Vermittlung von Kenntnissen, die dann ganz individuell eingesetzt werden sollen. Idole dieser Generation von High-Tech-Barbaren sind die Computer-Hacker und die Börsen-Junkies. Beide setzen ihre Intelligenz zu Zwecken ein, die historisch fruchtlos und asozial sind. Statt ihre Fähigkeiten für die Gemeinschaft (konservativ) einzusetzen, klinken sie sich innerlich aus und studieren umso genauer die Regeln, nach denen das Spiel funktioniert. Statt die Regeln (progressiv) in Frage zu stellen, lenken sie die Profite in ihre Tasche. Und werden dafür von allen bewundert. Nicht die Schulversager sind das große Problem, sondern die Formung der Eliten. Vor allem sollte man sich Gedanken machen, welche Argumentation Eltern und Erzieher dem neuen "Wissen ist Macht"-Bewußtsein entgegensetzen könnten.

Grundlagen für eine genuine "Zukunftsgewinnung" in diversen Themenfeldern könnten durch "think tanks" oder Stiftungen nach US-Vorbild erarbeitet werden. Ist es gänzlich undenkbar, daß hieraus vielleicht sogar eine weitere der heutzutage so einflußreichen Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) entsteht, die ähnlich viel organisatorische und mediale Schlagkraft entwickelt wie etwa Greenpeace oder ATTAC? Oder die feministischen Organisationen, denen zumindest öffentlich kaum noch Widerspruch entgegengesetzt wird? Auf den Bereich Wirtschaft und Technologie bezogen, könnte dies bedeuten, ein deutsches oder europäisches MIT (Massachusetts Institute of Technology) aufzubauen. Offensichtlich aber blockiert hierzulande der gerade bei konservativen Denkern anzutreffende analytische Tiefen- und Röntgenblick für größere Zusammenhänge leider die erforderliche Veränderungsenergie, welche für eine aktive Gestaltung der politisch-ökonomischen Realität und die Kreation von Gegenentwürfen vonnöten wäre.

 

Hans-Jürgen Hofrath schrieb zuletzt in JF 45/01 über Gefährdungen der Demokratie.


 
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