© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Überall herrscht Verwahrlosung
Gesundheitsökonomie: Die jüngsten Skandale bei Krankenkassen und Ärzten offenbaren Mißstände im System
Jens Jessen

Überall Verwahrlosung. Skandale kennzeichnen die neue deutsche Gesellschaft. Die freieste, die es jemals auf deutschem Boden gab. So sagen es alle. Deutschland ist normal geworden. Die Korruption ist Teil der Deutschland-GmbH.

O, du glückliches, europataugliches Land. Endlich bist du den Status der Redlichkeit los. Keiner erschießt sich mehr - wie in der Weimarer Republik geschehen - wegen eines Korruptionsverdachts. Die Gesellschaft ist menschlicher. Das brachte auch Thomas Hauschild vor zwei Wochen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Ausdruck: "Eine reife Zivilgesellschaft würde weniger auf die verlogene Bonhomie mancher Politiker hereinfallen - aber auch nicht auf das moralistische Gutmenschentum ihrer Gegenspieler". "In der allgemeinen Wahrnehmung werden deutsche Beamte und Politiker immer käuflicher", räsonierte Eva Busse in der FAZ einen Tag später. Die Transparency International (TI), Sektion Deutschland, eine weltweit operierende Vereinigung gegen Korruption, sieht dagegen Handlungsbedarf, um dem Schmähruf "Bananenrepublik" entgegenwirken zu können.

Mafiose Strukturen sind schon lange aus dem Dunkel der Parteien, Amtsstuben und der privaten Wirtschaft in Bereiche vorgedrungen, die als nicht anfällig angesehen wurden. So hat auch das Gesundheitswesen in den letzten Jahren viel von seinem guten Ruf eingebüßt.

Die Mißstände reichen von Verschwendung, Mißbrauch und Betrug bis hin zur Korruption. Fehlende Transparenz ist nach Ansicht der deutschen Sektion von Transparency International der Grund. Diese mangelnde Transparenz aber ist der Bürokratie zu verdanken. Die zahlreichen Skandale im Gesundheitswesen - überteuerte Herzklappen, verseuchte Blutkonserven, korrupte Pflegedienste, betrügerische Laborärzte, Annahme der von Pharmafirmen geschenkten Reisen durch Ärzte und deren Lebensgefährtinnen - zeigen einen Tiefstand der moralischen Sensibilität in einem Bereich, der von Vertrauen und Glaubwürdigkeit lebt.

Als 1994 der sogenannte Herzklappen-Skandal für großes Aufsehen sorgte, war die Reaktion der ärztlichen Selbstverwaltung erschreckend. Ohne Kenntnis der Dinge, weil ahnungslos, wiesen Bundesärztekammer und Landesärztekammern alle Vorwürfe als haltlos zurück, obwohl es zu staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen 1.860 Chefärzte und Techniker in 418 Kliniken sowie gegen Manager von medizintechnischen Unternehmen kam.

Es soll damals um 45 Millionen Mark gegangen sein. Herzklappen seien von den Unternehmen jahrelang mit durchschnittlich 6.000 Mark statt mit 3.000 Mark in Rechnung gestellt worden. Bis 2001 wurden weit über 1.000 Ermittlungsverfahren eingestellt. Weitere 300 Verfahren gegen Ärzte wurden mit Strafbefehlen erledigt.

Von der großen Zahl Beschuldigter blieb wenig übrig. Das Schwäbische Tagblatt vom 7. September 2001 meldete, daß es keinen Abgrund von Korruption am Tübinger Klinikum gäbe. Nur sechs Verhandlungen hätten mit einer Verurteilung geendet. Das aber waren sechs zu viel. Verwaltungsleiter Holl mußte zugeben, daß es im Medizinbereich eine systemimmanente Grauzone gibt. Eine Wuppertaler Firma, die von Anfang an in den Herzklappen-Skandal verwickelt war, habe rund 20 Prozent ihres Umsatzes für die Finanzierung von Reisen zu Kongressen verwandt. So ging es etwa um einen Flug nach Paris oder nach Houston mit anschließendem Besuch in die Everglades oder einen Helikopterflug in die Rocky Mountains.

Obwohl die Kassen keineswegs in Höhe des zur Debatte stehenden Betrages geprellt wurden, bleibt die Frage offen, warum die Verwalter der Kassenbeiträge der Versicherten überhaupt so geringe Kenntnisse von Preisen im medizintechnischen Bereich besitzen. Hätten sie diese Kenntnisse gehabt, wäre nicht ein Zufall nötig gewesen, die Mißstände aufzudecken.

Apropos Kassen: im letzten Jahr hat die Staatsanwaltschaft Wuppertal gegen mehrere Betriebskrankenkassen ermittelt. Im Zentrum der Ermittlungen stand eine Düsseldorfer Abrechnungsfirma, die für die Betriebskrankenkasse Düsseldorf und acht andere BKK die Rechnungsbegleichung vorgenommen hatte. Der Geschäftsführer der Abrechnungsfirma erstattete Selbstanzeige. Er gab an, Schmiergelder in Millionenhöhe gezahlt zu haben, um einige BKK als Kunden zu behalten. Außerdem hatte er Rechnungen manipuliert. Die Beiträge der BKK mußten im Schnitt um 0,5 Prozent erhöht werden. Hier ist es wirklich um Millionen zu Lasten der Versicherten gegangen.

Ein beliebter Aufschrei der Kassen gilt den "Millionenschäden" durch Falschabrechnungen der niedergelassenen Vertragsärzte. Dem Leser dieser Meldungen läuft ein Schauer über den Rücken, da er nun zu wissen glaubt, warum die Beiträge zur Krankenversicherung ständig steigen.

Was er nicht weiß ist, daß die Kassen es mit der Wahrheit nicht so ganz genau nehmen. Die Krankenkassen entrichten für die gesamte vertragsärztliche Versorgung an die zuständige Kassenärztliche Vereinigung eine Gesamtvergütung. Wenn die Zahl der Leistungen durch falsch abrechnende Ärzte zunimmt, sind nicht die Versicherten oder die Kassen geschädigt, sondern einzig und allein die Kollegen der Betrüger.

Der Mechanismus funktioniert einfach: die einzelnen Leistungen der Ärzte werden in Punktzahlen ausgedrückt. Da die einzelnen Leistungen einen unterschiedlichen Zeitaufwand und unterschiedliche Kosten verursachen, ist jeder Leistung eine spezielle Punktzahl zugeordnet. Der Wert des einzelnen Punktes ist zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Das ist erst der Fall, wenn die Gesamtvergütung durch die Summe aller von den Ärzten im Bereich einer Kassenärztlichen Vereinigung abgerechneten Punktzahl dividiert worden ist.

Wird durch betrügerische Ärzte die Punktzahl nach oben getrieben, sinkt der Punktwert, da die Gesamtvergütung sich durch Mehrleistungen nicht ändert. Da die Punktzahl mal dem Punktwert den Umsatz der Ärzte ergibt, sinkt der Umsatz der anständigen Ärzte, der Umsatz der Betrüger hingegen steigt an.

Von Millionenschäden für die Kassen kann keine Rede sein. Zum Schutz der ehrlich abrechnenden Ärzte werden zur Zeit jedoch konkrete Maßnahmen vorbereitet, die dem Abrechnungsbetrug einen Riegel vorschieben. Eines ist klar: auch im ärztliche Bereich ist die Herde schwarzer Schafe gestiegen. Nicht zum Schaden der Versicherten oder Steuerzahler, aber zum Schaden der guten Ärzte, die mehr und mehr demotiviert werden, wenn ihre Arbeit immer schlechter honoriert wird.


 
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