© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/02 05. April 2002


Schützenswerte Identität
Die Stimmen angestammter Minderheiten drohen nicht mehr gehört zu werden
Michael Paulwitz

Minderheit" gehört zu den meiststrapazierten Begriffen im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Gruppeninteressen erhöhen ihre Chance auf Durchsetzung, wenn sie im Namen einer Minderheit vorgetragen werden. Religiöse, soziale oder sexuelle Lobbyisten bezeichnen sich gern als Minderheiten, um unter Berufung auf diesen Status Schutz- und Sonderrechte einzufordern. Selbst die Bevölkerungsmehrheit der Frauen wird in dieser Sichtweise zur "Minderheit". Und wer Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren will, stilisiert sich flugs zur verfolgten Minderheit, um seinen Willen doch noch durchzusetzen.

Der Schutz der Minderheit vor der Willkür der Mehrheit ist ein zentrales Prinzip der Demokratie westlicher Denkart. Es liefert eine einleuchtende Begründung für ausgefeilte Kontrollmechanismen, die bewirken sollen, daß Entscheidungen möglichst von allen getragen werden. Wenn immer dieselbe Mehrheit immer dieselbe Minderheit niederstimmt, wird Demokratie zur sinnentfremdeten Formalität, zur Farce. Sonderrechte, die über die für alle geltenden Spielregeln hinausgehen, können daher nur institutionelle Minderheiten für sich in Anspruch nehmen - solche Gruppen also, die aufgrund ihrer unveränderlichen Eigenart in potentieller Daueropposition zur Mehrheit des Staatsvolkes stehen.

Der Schutz ethnischer Minderheiten ist der klassische Fall für die Gewährung solcher Sonderrechte. Im inflationären Konzert der schutzheischenden Minderheiten nimmt sich die Stimme der ethnischen Gruppen im multikulturellen Deutschland des 21. Jahrhunderts gleichwohl sperrig aus.

Ein Grund dafür liegt im Zeitgeist, dem der Schutz nationaler Minderheiten offensichtlich zuwiderläuft. Denn worin unterscheidet sich der Friese, Sorbe oder Däne vom "anderen" deutschen Paßinhaber, wenn nicht durch seine Abstammung, seine kulturelle Eigenart, seine volksbezogene Identität? Was die von der rot-grünen Regierungskoalition ins Werk gesetzte Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts dem Staatsvolk als Souverän des Grundgesetzes nehmen will, wird im Falle bestimmter nichtdeutscher Gruppen dieses Staatsvolks also ausdrücklich geschützt.

In der Definition, wem der Schutzanspruch zugute kommen soll, liegt die nächste Schwierigkeit. Deutschland, das sich im Namen der Multikulturalität großzügig Einwanderern aus aller Welt geöffnet hat, beherbergt Menschen aus hunderterlei Völkern. Viele von ihnen sind deutsche Staatsbürger oder haben nach der Lockerung des Staatsbürgerschaftsrechts gute Aussichten, es zu werden. Linken Ideologen ist schon diese Unterscheidung ein Dorn im Auge. Die Extremposition, wonach jeder Fremdstämmige Angehöriger einer Minderheit wäre, dessen Kultur besonderer staatlicher Förderung bedürfte und dessen Sprache im öffentlichen und politischen Leben gleichberechtigt zu verwenden wäre, muß freilich - noch - an der faktischen Undurchführbarkeit scheitern. Am Kriterium der Autochthonität kommt man daher nicht vorbei: Die Kontinuität der Bewahrung von Volkstum und Sprache auf einem definierbaren Siedlungsgebiet unterscheidet die schutzwürdige alteingesessene Volksgruppe von wechselnden, rein numerischen "Minderheiten", die dem Zufall der Migrationsströme unterliegen.

Ob und wen man als nationale Minderheit schützt, ist dabei keineswegs eine rein innenpolitische Frage. Seit das Versailler Vertragssystem bei der Umgestaltung Zwischeneuropas unterschiedliche Völker meist gegen ihren Willen in neugeschaffenen Staaten zusammenfaßte und die Härten durch Minderheitenschutzverträge erträglicher zu gestalten suchte, intervenieren Schutzmächte zugunsten ihrer Brüder und Schwestern jenseits der Grenzen. Ungarn tut dies gegenüber Rumänien, der Slowakei und Serbien bis heute, Österreich mit unterschiedlichem Eifer im Falle Sloweniens und Italiens ebenfalls. Deutschland hält sich, denkt man an die Volksdeutschen in Polen und den GUS-Staaten oder an die anhaltende Entrechtung der in Böhmen und Mähren verbliebenen Deutschen durch die Benes-Dekrete, in dieser Beziehung auffallend zurück. Das schützt aber kaum vor künftigen Ansprüchen.

In der Dynamik der Demographie liegt nämlich die wohl größte Herausforderung für den politischen Umgang mit nationalen Minderheiten. Die Bevölkerungsstruktur eines Landes ist nicht für alle Zeiten festgeschrieben; die zufällig eingewanderten Minoritäten von heute können die autochthonen Volksgruppen von morgen sein.

Jetzt schon steht die deutsche Politik weitgehend hilflos da, wenn beispielsweise die eingewanderten Türken - ob mit Paß oder ohne - für die Interessen des Heimatlandes mobilisiert werden. Auch ohne Sonderrechte als ethnische Minorität zu genießen, stellen zwei Millionen türkische Einwanderer einen nicht zu übergehenden politischen und gesellschaftlichen Faktor dar. In fünfzig oder hundert Jahren, wenn Türken in vierter, fünfter oder sechster Generation in Deutschland leben, wird man ihnen den Status einer autochthonen Volksgruppe nur schwer verweigern können - mit allen Konsequenzen, Autonomieforderungen nicht ausgeschlossen. Die politische Behandlung ethnischer Minderheiten und Volksgruppen kommt daher an der Frage der Leitkultur nicht vorbei. Der Umgang mit nationalen Minderheiten ist kein Nebenkriegsschauplatz der Politik. Es geht dabei auch um weit mehr als nur um staatliche Zuschüsse für Folklore und Sprachpflege. Volksgruppenpolitik setzt einen Kontrapunkt zur gleichmacherischen Tendenz des republikanischen Nationalstaats französischer Prägung, seine Bewohner zu einheitlichen citoyens zu assimilieren, und verteidigt auf diese Weise die Freiheit des einzelnen in seinem jeweils besonderen kulturellen Bezugsrahmen.

Schützen Sonderrechte und Privilegien Volksgruppen, deren Traditionen und Gebräuche mit der Leitkultur des Mehrheitsvolkes vereinbar sind, machen sie das öffentliche Leben des ganzen Gemeinwesens reicher, insbesondere bei den autochthonen Minderheiten. Bei undifferenzierter Übertragung auf Einwanderer, die dem politischen und gesellschaftlichen System des neuen Landes reserviert oder gar feindlich gegenüberstehen, kann der Schutz der Minderheit dagegen in eine Tyrannisierung der Mehrheit umschlagen. Die Einwohner eines Landes sind nicht bloß Ziffern im wirtschaftlichen Produktionsprozeß, sondern Kinder ihrer Völker und Kulturen. Das gilt, wohlgemerkt, für alle - für Minderheiten ebenso wie für die Mehrheit.


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