© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Bedeutsam für ganz Deutschland
Die Nachkommen des Goethe-Förderers Herzog Carl August streiten mit dem Land Thüringen um den Nachlaß des Dichterfürste
Doris Neujahr

Das Buch "Christiane und Goethe" von Sigrid Damm gehört zum Besten, was vom Goethe-Jahr 1999 geblieben ist. Es handelt sich um eine - so der Untertitel - "Recherche" über Christiane Vulpius, die von 1790 bis zu ihrem Tode 1816 mit Goethe zusammenlebte. Christiane führte Goethes immensen Haushalt, organisierte seinen Alltag, sorgte sich um seine Gesundheit. Sie schuf ganz wesentlich die äußeren Voraussetzungen, damit das Genie für sein literarisches Werk leben konnte. Bei der Leküre fällt einem unwillkürlich der Satz Heiner Müllers ein: Was für die Eliten Geschichte ist, das ist für die unteren Klassen stets Arbeit gewesen!

Das gilt für den gesamten Weimarer Musenhof unter dem Goethe-Freund und -Förderer Carl August, dessen Mythos als gütiger Großherzog sich bis heute fortschreibt. Zu Recht! Doch gibt dieses strahlende Bild die Wirklichkeit nur selektiv wieder. Mit ihren Recherchen zu den ökonomischen und materiellen Grundlagen hat Sigrid Damm ein realistisches Alltagsgrau hinein gemischt.

Herzog Ernst-August, der Großvater des fürstlichen Goethe-Freundes, ließ zwischen 1724 und 1733 neun Schlösser errichten. Er verursachte Kosten von 250.000 Reichstaler. Die Stadt Weimar mußte dem herzoglichen Hof ihre Steuereinnahmen als Darlehen zur Verfügung stellen, Beamte erhielten keinen Sold, Lieferanten blieben auf ihren Rechnungen sitzen, Handwerker, die beim Schloßbau tätig waren, bekamen jahrelang keinen Lohn. Die Zwangsanleihen wurden der Stadt selbstredend nicht zurückerstattet. Wer gegen das fürstliche Raubrittertum aufbegehrte, wurde mit Strafen bedroht: "Das vielfache Räsonieren der Untertanen", ordnete der Herzog 1744 an, "wird hiermit bei halbjähriger Zuchthausstrafe verboten und haben die Beamten solches anzuzeigen. Maßen das Regiment von uns und nicht von den Bauern abhängt und wir keine Räsoneurs zu Untertanen haben wollen." Seinen Untertanen schuldete er, als er 1748 starb, 360.000 Taler.

Zur selben Zeit bettelte Johann Friedrich Vulpius, Christianes Vater, um eine Anstellung am Hof: "... ich erbötig bin, alles gratis und ohne Entgeld (zu tun, bis) zu einer ergiebigeren Gelegenheit (der) Versorgung." Nach langen Hungerjahren erhielt er eine Anstellung für ein Jahressalär von 75 Talern. Ein Scheffel Weizen kostete damals knapp zwei, ein paar Schuhe einen Taler. Zum Vergleich: 1782 brachte der Schöngeist Carl August 1.149 Taler allein am Spieltisch durch.

Natürlich muß man Personen aus ihrer Zeit heraus begreifen, und Carl August gehört unter den deutschen Duodez-Fürsten zu den "besseren Exemplaren". Schon seine Mutter Anna Amalie hatte Christoph Martin Wieland als Prinzenerzieher an den Hof berufen und gilt als eigentliche Begründerin von "Ilm-Athen". Carl Augusts Schwiegertochter Maria Pawlowna, eine russische Zarentochter, holte 1841 Franz Liszt in die Stadt und eröffnete damit Weimars "Silbernes Zeitalter".

Wegen dieser Verdienste möchte man gern darauf verzichten, den Großherzögen von Sachsen-Weimar-Eisenach die Ausbeutung ihrer Untertanen nachzurechnen. Doch weil Carl Augusts Nachkommen mit dem Freistaat Thüringen seit Jahren um etwas streiten, was sie ihr rechtmäßiges Eigentum nennen und was ihnen - sie teilen nur millionenfaches Schicksal - durch Krieg und Nachkriegschaos abhanden kam, ist die Erinnerung an historische Zusammenhänge geboten.

Zum beanspruchten Eigentum zählt neben dem Inventar der Schlösser in Weimar und Tiefurth unter anderem die Anna-Amalie-Bibliothek, der Goethe-Schiller-Nachlaß und die Fürstengruft samt Klassikergräber als "bewegliche Habe". Der Streitwert beläuft sich auf eine halbe Milliarde Euro. Allein Goethes Faust-II-Manuskript wird mit 12,5 Millionen Euro veranschlagt.

Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen in Gera hat die Ansprüche zurückgewiesen. Die Fürstenfamilie hat Klage beim Verwaltungsgericht Gera eingereicht.

Niemand mißgönnt der Familie ihr Auskommen und einen Wohnsitz in der angestammten Heimat, doch der Griff auf den Goethe-Nachlaß ist einfach nur schamlos! Der letzte Goethe-Enkel Wolfgang hatte 1885 das Erbe seines Großvaters dem Hause Sachsen-Weimar vermacht. Damit entsprach er dem Vermächtnis Goethes, der seinen gesamten Nachlaß an einem Ort und in einer Hand zusammengefaßt wissen wollte, weil er ihn als universellen Bildungskosmos betrachtete. Seine Sammlungen, Konvolute und Briefschaften, schrieb er im Testament, seien "mit Plan und Absicht" zusammengetragen worden und "bedeutsam ... für ganz Deutschland".

Dem Goethe-Enkel erschien das fürstliche Patronat als das sicherste Dach für dieses deutsche Kronjuwel. Weimar war der gleichsam natürliche Ort und das Fürstenhaus mit seinen materiellen, politischen und logistischen Möglichkeiten die naheliegende Institution. Das Klassiker-Archiv wurde zum Privatarchiv des Hauses Sachsen-Weimar. Dieser Status war bis 1945 unumstritten. Für Großherzogin Sophie, die die "Sophienausgabe" veranlaßte, bedeutete der übergebene Besitz ausschließlich einen treuhänderischen Auftrag, den sie in Demut annahm: "Ich habe geerbt, und Deutschland und die Welt sollen mit mir erben." In ihrem Testament bestimmt sie, daß die Schätze in Weimar verbleiben, sorgfältig verwahrt und der Wissenschaft zur Verfügung stehen sollen.

Parallel dazu wurde die Goethe-Gesellschaft gegründet, die durch Eigenmittel, Spenden und Schenkungen zur Aufstockung des Bestandes beitrug. Eine korrekte Trennung des jetzigen Bibliotheksinventars ist heute gar nicht mehr möglich.

Noch vor dem Sturz der Monarchie 1918 sollte sich in Weimar vieles ändern. Wilhelm Ernst, der letzte Großherzog von Sachsen-Weimar, schlug aus der Art seiner Vorfahren. Der Kulturhistoriker Klaus Günzel beschreibt ihn in einer Studie als wilhelminische Casino-Natur. Seit 1903 bemühten der Kunstkenner und Mäzen Harry Graf Kessler und der Jugendstilkünstler Henry van der Velde sich darum, gemeinsam mit Lovis Corinth, Max Liebermann, Hugo von Hofmannsthal und anderen, in Weimar ein Zentrum moderner deutscher Kunst, vielleicht gar ein "Bayreuth des Schauspiels", zu etablieren. Wilhelm Ernst fiel dazu nur ein: "Ich soll mich wohl auch noch freuen, daß ich Geld bezahlen soll." Drei Jahre später kam es unter beleidigenden Umständen zur Demission Kesslers. Der notierte über den Großherzog, "daß ihm jede Art von Herz fehlt; sein moralisches Manko, der Mangel aller feineren Gefühle, auf denen der Verkehr von Mensch zu Mensch beruht".

Dieser Mangel scheint das Erbteil zu sein, das die weiteren Nachfahren ereilt hat. Denn nur Banausen können auf den Gedanken kommen, aus der Gnade und dem Privileg, stellvertretend für die Nation und die gesamte zivilisierte Menschheit für einige Jahrzehnte Hüter des von Goethe und Schiller hinterlassenen Schatzes gewesen zu sein, materielle Ansprüche abzuleiten.

Von dem Geld, daß Carl August aus seinem Land herauspreßte, hat er Goethe ein Auskommen ermöglicht. Das - und zwar nur das - sichert dem Fürstenhaus einen Nischenplatz in der Geschichte, ihm gebührt heute keine Dankesschuld mehr. Carl August war sich bewußt, daß sein Haus mehr von Goethe profitierte, als umgekehrt. Als es 1815 um die Neugestaltung Deutschlands ging, begründete er seine - unerfüllt gebliebenen - Ansprüche auf territoriale Erweiterung mit der Bedeutung seines Landes für - die deutsche Literatur.

Heute ist die Situation eine andere, die großherzoglichen Nachkommen werden als Schirmherren für Goethes Erbe nicht mehr gebraucht. Für den Unterhalt der Archivalien bringen Bund und Land jedes Jahr Millionen auf, die Fürstenfamilie wäre überhaupt nicht in der Lage, an ihre Stelle zu treten. Darum geht es ihr auch nicht, sie will Goethe zu Geld machen. Damit hat sie sich auch ideell für alle Zukunft disqualifiziert.

Jeder blamiert sich so gut er kann. Es ist eben ein anachronistischer Kinderglaube, daß ein Fürstentitel besondere Tugenden und Einsichten seiner Träger verbürgt. Die Einsicht zum Beispiel, daß es Werte gibt, die sich nicht im Preis ausdrücken lassen. Da wir im Zeitalter der Privatklagen leben, könnte es für die Fürsten jedoch noch ganz anders kommen. Vielleicht machen die Nachkommen jener Diener, Handwerker und Steuerzahler, die einst von den fürstlichen Ahnen abgezockt und kujoniert wurden, demnächst eine Gegenrechnung auf, mit Zins und Zinseszins. Wer dann bei wem in der Schuld steht, darüber besteht wohl kein Zweifel!

Goethe (r.) und Herzog Carl August in der Schweiz (1779/80): Universeller Bildungskosmos


 
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