© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Es geht nicht um materielle Wiedergutmachung
Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, sprach über EU-Osterweiterung und Menschenrechte
Alexander Barti

Je näher der Termin für die EU-Osterweiterung rückt, desto drängender gelangt ein Thema in den Blickpunkt der internationalen Politik, das viele schon für erledigt hielten: die Vertreibung der Deutschen aus ihren östlichen Siedlungsgebieten. Die Europäische Union muß die Vertreibung als Unrecht einstufen - mit den entsprechenden Konsequenzen für Täter und Opfer - wenn sie der vielbeschworenen "Wertegemeinschaft" nicht schweren Schaden zufügen will.

In diesem Sinne äußerte sich am 20. März die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, bei einer Rede in der Preußischen Gesellschaft Berlin-Brandenburg. Sie gab ihrer Überzeugung Ausdruck, daß die Menschenrechte in der EU einen sehr viel höheren Rang einnähmen, als die wirtschaftlichen Regelungen, zum Beispiel in Form von Agrarsubventionen; ein EU-Osterweiterung ohne Achtung der Menschenrechte sei daher undenkbar. Die Kopenhagener Erklärung aus dem Jahre 1993 mache deutlich, daß jeder Beitrittskandidat die Menschenrechtskonventionen schon vor dem Beitritt zur EU dauerhaft verwirklicht haben müsse.

Nach 1945 sei ein "Friede im Stile Hitlers" geschlossen worden, als die Siegermächte die Vertreibungsverbrechen stillschweigend geduldet hätten. Über 15 Millionen Deutsche waren betroffen, von denen mehr als zwei Millionen die "Umsiedlung" nicht überlebt haben. Sogar 1951 sei es noch zur Vertreibung von rund 40.000 Deutschen in Rumänien gekommen, so Steinbach, und nach 1945 habe es in Polen 1.200, in der Tschechoslowakei sogar 1.500 Zwangsarbeitslager gegeben, in denen Deutsche gequält wurden. Um ihre Aussage zu unterstreichen, las Frau Steinbach eine Passage aus den Erinnerungen eines Zeitzeugen vor, in der eine bestialischen Szene geschildert wird.

Die Vertreibung sei eine bis heute "ungelöste, offene Menschenrechtsfrage", die auch durch das "internationale Leichentuch des Schweigens" nicht beseitigt werde, so Steinbach. Dabei habe sich Europa nicht zum erstenmal schuldig gemacht: Der Völkermord an den Armeniern 1915 in der Türkei habe auch keine Konsequenzen gehabt - mit der Folge, daß Hitler sich 1939 bei seiner Kriegspolitik nachweislich auf diese ungesühnte "ethnische Säuberung" berufen habe.

Steinbach betonte, daß es ihr in dieser Debatte nicht so sehr um eine materielle Wiedergutmachung gehe, sondern um die "Heilung" der Vertreibung durch die moralische Anerkennung ihrer Unrechtmäßigkeit. Als Beispiel nannte sie die Beitrittskandidaten Ungarn, Estland, Litauen und Rumänien, die die rechtlichen Vertreibungsgrundlagen in ihren Verfassungen inzwischen getilgt hätten - im Gegensatz zu den Polen, Tschechen, Slowaken und Slowenen. Sollten diese Länder mit ihren Vertreibungsdekreten in die EU aufgenommen werden, werde die europäische Rechtsgemeinschaft einen "großen Schaden" nehmen; vor diesem Hindergrund nannte Steinbach die Forderung des tschechischen Parlamentspräsidenten Vaclav Klaus, die Benes-Dekrete in das EU-Recht zu integrieren, eine "Unverfrorenheit", die sie "sprachlos" mache. Frau Steinbach betonte, daß es keine Kollektivschuld gebe, wohl aber ein "Erbe an einer anderen Epoche"; es gelte nicht, den Nationalsozialismus mit der Vertreibung aufzurechnen, gleichwohl dürfe man Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mit zweierlei Maß messen.

Nach ihrem Vortrag wurde Frau Steinbach gefragt, wieso man die Vertreibungen, die schon nach 1918 begangen wurden, übergehe. Nach dem Ersten Weltkrieg seien "kurzsichtige Friedensverträge" geschlossen worden, die der "Grundstein für soviel Ungerechtigkeit" gewesen seien, stimmte Steinbach dem Einwurf zu. Ob auch diese Verbrechen aufgearbeitet würden, blieb allerdings unklar.


 
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