© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   14/02 29. März 2002


Anschlag auf die Verfassung
Mit einer Komödie im Bundesrat haben SPD und Union die Demokratie beschädigt
Paul Rosen

Gerhard Schröder, der Minus-Kanzler, brauchte einen Erfolg.Vermeintlich hat er ihn. Das Zuwanderungsgesetz passierte den Bundesrat, Herausforderer Edmund Stoiber scheint die Schlacht verloren zu haben. Rot-Grün hatte gehofft, daß die Öffentlichkeit das umstrittene Ja des Bundesrates als Niederlage für Stoiber registrieren würde. Schon kurz vor Abbruch der Sitzung der Länderkammer dürfte Schröder und Co. klar gewesen sein, daß diese Rechnung nicht aufgeht. Seitdem diskutiert Deutschland über einen Verfassungsbruch, mit dem das Zuwanderungsgesetz durchgedrückt wurde. Heute stellt sich heraus: Die Warnungen vor einer anderen Republik, oft ausgesprochen zum Amtsantritt der rot-grünen Koalition vor dreieinhalb Jahren, waren und sind so unberechtigt nicht.

In der Schlußphase des Zuwanderungsgesetzes ging es überhaupt nicht mehr um die Frage, wie dieses Land in zehn oder 20 Jahren aussehen soll, ob es ein Land der Deutschen mit hohem Ausländeranteil bleibt, oder ob es sich in eine multikulturelle Gesellschaft verwandelt. Auch wenn Schröder stets behauptet hatte, es gehe nicht um einen Machtkampf mit Stoiber, so war das tatsächlich anders und von Rot-Grün von vornherein auch so geplant. Das Vorhaben des Kanzlers, die Union zu spalten und das von einer SPD/CDU-Koalition regierte Land Brandenburg auf seine Seite zu ziehen und damit die Mehrheit in der Länderkammer zu bekommen, ging nicht auf. Der brandenburgische Innenminister und CDU-Landesvorsitzende Jörg Schönbohm blieb trotz aller Zweifel im Bundesrat standhaft und gab dem traditionell zum Ja-Sagen neigenden Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) nicht nach.

Schröder hatte darauf gesetzt, sich mit finanziellen Zusagen an die Länder die Zustimmung einer Mehrheit im Bundesrat sichern zu können. Dies war ihm schon einmal bei der Abstimmung über die rot-grüne Steuerreform gelungen. Doch Geschichte wiederholt sich nicht und wenn doch, dann nur als Farce. Nachdem Stolpe sein Ja abgegeben und Schönbohm im Bundesrat dagegen protestiert hatte, rückte Klaus Wowereit (SPD), der derzeitige Präsident des Bundesrates, in den Mittelpunkt des Geschehens. Wowereit fragte Stolpe nach den sich widersprechenden Voten des Landes Brandenburg erneut nach der Haltung des Landes. Stolpe sagte wieder ja, Schönbohm widersprach erneut. Schließlich stellte Wowereit aufgrund des Votums von Stolpe fest, Brandenburg habe für das Zuwanderungsgesetz gestimmt. Rot-Grün hatte damit die Mehrheit von 35 Stimmen erreicht.

Eigentlich Zirkustheater. Denn die große Mehrheit der Verfassungsjuristen hatte von vornherein klargestellt, daß im Falle eines widersprüchlichen Verhaltens von Bundesrats-Vertretern eines Landes dessen Stimmen nur als nicht abgegeben bewertet werden dürfen. Zu diesem Ergebnis kommen alle juristischen Standardkommentare des Grundgesetzes. Auch die Bundesratsverwaltung hatte ihrem Präsidenten Wowereit in einem Vermerk zu dieser Rechtsauffassung geraten. Der Regierende Bürgermeister selbst hatte noch zwei Tage vor der Bundesratssitzung bei einem Treffen der Ost-Ministerpräsidenten klargestellt, daß er sich der herrschenden juristischen Meinung anschließen werde.

Die Ursachen für seinen Sinneswandel dürften klar sein. Noch bis kurz vor Beginn der Sitzung der Länderkammer hatten Schröder und die führenden Genossen den Berliner Bürgermeister in die Pflicht genommen. Vermutlich dürfte der Preis darin bestanden haben, daß sich der Bund stärker bei den Kosten für die Berliner Museumsinsel beteiligen wird. Für ein paar Silberlinge wird die deutsche Verfassung gebogen, Stoiber spricht sogar von offenem Verfassungsbruch.

Formal argumentiert die SPD anders: Man beruft sich auf einen Präzedenzfall aus dem Jahre 1949, bei dem sich zwei NRW-Minister um die richtige Stimmenabgabe gestritten hatten. Das Abstimmungsverhalten des Landes wurde damals durch den auf dem Präsidium sitzenden Ministerpräsidenten Karl Arnold festgestellt. Die Streithähne auf der NRW-Bank widersprachen nicht. Das Votum war gültig. Der Unterschied zum 22. März 2002 - Schönbohm hat dem Ministerpräsidenten widersprochen, so daß der Fall mit dem von 1949 nicht vergleichbar ist. "Wowereit hat in jedem Fall falsch entschieden", stellte der ehemalige Bundespräsident und frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, fest.

Was im März 2002 in einem wichtigen deutschen Verfassungsorgan passierte, ist nur noch als eine "Verfassungssklerose" zu bezeichnen. Der Spaßgesellschaft sind die Regeln, die das friedliche Zusammenleben des Volkes ermöglichen sollen, ziemlich egal geworden. Das Grundgesetz wird der Beliebigkeit preisgegeben. Herzog: "Ich habe mir den Vorgang im Bundesrat genau angesehen. Ich glaube nicht, daß das Gesetz auf grundgesetzmäßige Weise zustande gekommen ist." Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Friedrich Merz, formuliert es drastischer: "Wir werden von einer Gruppe von Leuten regiert ohne jeden Respekt vor den gewählten Volksvertretungen, vor den Institutionen dieses Staates, vor dem Grundgesetz. Nichts ist ihnen irgendwo Achtung und Respekt wert, wenn es darum geht, ihren machtversessenen Anspruch durchzusetzen."

Jetzt ist also der Bundespräsident am Zuge. Johannes Rau, der alte Parteisoldat der SPD, muß prüfen, ob das Gesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist. Wie gesagt, die herrschende juristische Meinung ist eindeutig. Rau kann bei führenden Verfassungslehrern, etwa dem Bonner Josef Isensee, Expertisen bestellen. Sie alle würden ihm von einer Unterzeichnung des Gesetzes abraten. Anders argumentieren nur wenige Juristen, etwa der Mainzer Verfassungslehrer Dieter Dörr. Doch wie Rau sich entscheiden wird, ist alles andere als klar.

Auch wenn Merz hofft, daß es mit dem Präsidialamt wenigstens eine von der SPD besetzte Position gebe, die noch Respekt vor der Verfassung habe, so wird im politischen Berlin nicht ausgeschlossen, daß Rau sich der juristischen Mindermeinung anschließen könnte. Dies geht vor allem deshalb recht gut, weil es zwar eindeutige Kommentierungen, aber kein Urteil des Verfassungsgerichts zum Fall von 1949 gibt. Stoiber wird dann kaum etwas anderes übrig bleiben, als den Fall vom Verfassungsgericht entscheiden zu lassen.

Egal, wie die Sache dann in Karlsruhe ausgeht: Für Schröder ist heute schon klar, daß er allenfalls einen Pyrrhussieg errungen hat. Die große Mehrheit der Wähler will dieses jetzt auch noch mit einem verfassungsrechtlichen Makel behaftete Gesetz ohnehin nicht. Stoiber ist nicht beschädigt. Noch so ein Sieg, und Schröder ist verloren.


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