© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002


Quellgeist und Herr der Ringe
Was heißt Verstehen? - Zum Gedenken an Hans-Georg Gadamer
Günter Zehm

Ein „Wunder“ hat Peter Sloterdijk den Erdengang des in der letzten Woche im Alter von 102 Jahren verstorbenen Philosophen Hans-Georg Gadamer genannt, und das war er wirklich. Gadamer hat in seinem Leben schwerste gesundheitliche Schädigungen hinnehmen müssen, litt an Kinderlähmung - und hat doch das ganze zwanzigste Jahrhundert durchmessen dürfen, in geistiger Klarheit und Präsenz bis zum letzten Tag, ein wahrhaft Weiser, Inbegriff existentieller Fitness und Lebensfreude.

Er war in allen seinen Geistesregungen und Bekenntnissen das, was man einen in der Wolle gefärbten Konservativen nennt, hat daraus nie einen Hehl gemacht, hat sich nie auf Kompromisse mit dem linken Zeitgeist eingelassen - und wurde dennoch in allen politischen und künstlerischen Lagern verehrt und respektiert, nicht einmal sein maßvolles „Mitmachen“ im Dritten Reich und das spätere Ausbleiben jeglicher „Entschuldigung“ konnte dieser Verehrung Abbruch tun.

Gadamer war ein „Spätentwickler“, hielt sein Pulver lange trocken, verbrachte seine jungen Jahre als Lernender, als Schüler bei Heidegger, beim Studium der Platondialoge; sein epochemachendes Buch „Wahrheit und Methode“, mit dem er 1960 zum ersten Mal volle Pranke zeigte, veröffentlichte er im einundsechzigsten Lebensjahr - und dennoch sprüht sein Werk von „jugendlicher“ Schaffenskraft, entfaltet immer wieder die unerwartetsten Energien, war stets offen vor allem für jüngere Generationen.

Schließlich und endlich: Gadamer war im Gewinnen von Erkenntnis ein Archaiker von schier unglaublicher Konsequenz, seine bevorzugten Gesprächspartner waren die Toten, nämlich die griechischen Klassiker, Heraklit, Platon, Aristoteles - und trotzdem und gerade deshalb war Gadamer ein per se moderner Denker, der Triftiges und Bedenkenswertes zu nahezu sämtlichen aktuellen Fragen und Problemen geliefert hat, der sich mit Ingenieuren und Brückenbauern ebenso mühelos verständigen konnte wie mit Gentechnikern und Informatikern.

Das Stichwort seines Schaffens war die „Hermeneutik“, die „Verstehenskunde“. Gadamer wollte nicht im Stil der experimentierenden und quantifizierenden Naturwissenschaft berechnen und Formeln schaffen („alle Daten sind Quellen, und mit Quellen darf man nicht experimentieren“, pflegte er zu sagen), sondern er wollte verstehen und andere zum Verstehen bringen. Und damit meinte er: sie zu den reinen Quellen führen und daraus trinken lassen.

Die Quellen selbst, so zeigte er, sind keine geometrischen Punkte in exakter Versuchsanordnung, sondern es sind Ausflüsse eines immer schon präsenten Fühlens und Wollens, ihr „Murmeln“ ist das Gespräch, und im Reinigen und Reinhalten des originalen Gesprächs liegt folglich das methodische Differential seriöser Erkenntnis. Um zu erkennen, muß man geduldig und einfallsreich sprechen, muß eines sich im anderen spiegeln lassen, muß zuhören können, muß beredt schweigen können - all das heißt Verstehen.

Dabei ist sich Gadamer des sogenannten „hermeneutischen Zirkels“ voll bewußt gewesen, er selbst hat ihn - im Anschluß an Wilhelm Dilthey (1833-1911) - besonders scharf gefaßt. „Ich kann nur unter der Voraussetzung verstehen“, formulierte er „daß ich bereits verstanden habe“. Das ist zwar eine logische Kalamität, ein circulus vitiosus; der Verstehende muß gewissermaßen Fleisch vom Fleisch des Verstandenen sein, muß mit ihm gleichsam eins sein, um in seine Geheimnisse eindringen zu können. Aber: „Der Geist ist ein geschichtliches Wesen, d. h. er ist von der Erinnerung des ganzen Menschengeschlechts erfüllt, das in Abreviaturen in ihm lebt, und er kann von ihr erfüllt sein, weil er eben sie, die Erinnerung, aus sich erzeugen kann.“

Nichts Menschliches ist mir fremd, nichts Menschliches darf mir fremd sein, wenn ich verstehen will. Von dieser Maxime war Gadamer erfüllt. Er sprach von der Notwendigkeit des „Sicheinschmiegens“, vom Sicheinschmiegen „in die Rumpfbeuge des zu verstehenden Anderen“, und er war sich auch im Klaren darüber, daß ein Rest von Nichtverstehen, von „Befremden“, immer bleiben werde. Jeder Schriftsteller erfahre dieses Befremden, wenn er in den Rezensionen seiner Bücher lese; er erkenne sich darin nicht wieder, auch in den positivsten nicht. Jedes Verstehen sei irgendwie auch ein Entfremden.

Weil das wirklich so ist und weil Gadamer unter dieser Konstellation regelrecht physisch litt, gab er dem lebendigen Dialog - in gut platonischer Manier - entschieden Vorzug vor dem geschriebenen Wort. Seine geschriebenen Texte mögen sich manchmal etwas spröde und sogar banal ausnehmen - in seinen original geführten Dialogen lieferte er stets das Maximum, das ein herrliches Optimum war.

Dieser Weise war absoluter Meister des lebendigen Dialogs, im Zuhören und im Beschweigen fast noch perfekter als im Reden. Hier kulminierte das Wunder, hier entfaltete sich ein Zauber, der unzählige Auditorien und Gesprächsrunden in aller Welt in seinen Bann geschlagen hat und sie belehrt und beglückt entließ. Hans-Georg Gadamer war der Merlin und Herr der Gesprächsringe. Seinesgleichen werden wir lange nicht mehr haben. Günter zehm

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena


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