© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Die großen Zeiten kleiner Leute
Echolot mit Defekten: Walter Kempowski kehrt von seiner Zeitreise einmal nicht mit vollen Netzen zurück
Jürgen Neumann

Inmitten seines allseits als unerschöpflich gepriesenen Archivs scheint Walter Kempowski der Stoff auszugehen. Denn die ersten, 1994 veröffentlichten Bände von „Echolot“ brachten es als „kollektives Tagebuch“ der Kriegswendemonate Januar und Februar 1943 auf gut zweitausend Seiten. Und „Echolot II“, das unter dem Titel „Fuga furiosa“ 1999 erschien, verkürzte zwar den Berichtzeitraum auf vier Wochen im Februar und März 1945, benötigte dafür aber vier dicke Bände. Wäre es nach dem Gesetz dieser Serie so weiter gegangen, hätte „Barbarossa ’41“, das Kempowski nun als „Echolot III“ präsentiert, mindestens einen halben Regalmeter beanspruchen dürfen.

Statt dessen müssen wir uns für das Schicksalsjahr 1941, das bei Kempowski vom ersten Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion bis zum 31. Dezember reicht, als die Wehrmacht vor Leningrad und Moskau zu Eis erstarrte, mit einem Band begnügen. Zudem klammert der Kompositeur Kempowski die Sommer- und Herbstmonate weitgehend aus. Er konzentriert sein Material auf drei Wochen nach dem 22. Juni und die letzten drei Dezemberwochen, kontrastiert also die euphorisch stimmenden Anfangserfolge mit der katastrophischen Winterkrisis.

Mit Ausnahme eines knappen Vorworts stammt wiederum keine Zeile dieses Textmassivs vom „Autor“, der mit unsichtbarer Hand „nur“ die Textauswahl trifft und das Arrangement der Tagebuchpassagen, Briefe, Erinnerungen, amtlichen Mitteilungen, der den jeweiligen Tag einleitenden Herrnhuter-Losung sowie des ihn diesmal beschließenden Schlagertextes („Ich steh im Regen und warte auf dich, auf dich“) besorgt. Einen neuen Schwerpunkt setzt Kempowski durch die auffallend platzgreifende Berücksichtigung russischer Zeitzeugenberichte, die den Krieg größtenteils aus Leningrader Sicht reflektieren. So verschränken sich die Perspektiven. Nicht nur auf der Zeitleiste des Jahres 1941. Wenn der Leser miterlebt, wie während der deutschen Belagerung der Newa-Metropole dort nach und nach alle Hunde und Katzen geschlachtet werden, um den Hunger zu stillen, fällt es ihm leicht, dies mit in Echolot I erwähnten Pferde- und Ratten-Mahlzeiten zu assoziieren, mit denen zwölf Monate später Soldaten der 6. Armee in Stalingrad ihr Dasein verlängerten.

Nach wie vor ist dies Kempowskis Kompositionsprinzip: die Collage der Erlebnisse, das Zusammenfügen eines Mosaiks von Eindrücken und Urteilen, das die „Wirklichkeit“ eines vergangenen Tages oder gar die „Wahrheit“ historischer Ereignisse in ihrer verstörenden, pointilistischen Fragilität von Momentaufnahmen erscheinen läßt. Nicht selten eröffnet dieses Verfahren auch innerhalb eines Textpartikels tiefe Blicke in Mentalitätsabgründe. So der Brief eines Oberleutnants vom 22. Juni 1941, der, sich imperialen Phantasien hingebend, vom Vorstoß in den Mittleren Orient fabuliert, um dann einen Wunsch zu äußern, dessen Erfüllung ihm viel mehr am Herzen liegt: seine Heimatstadt Euskirchen möge vom Krieg verschont werden. Wer noch einen emphatisch-idealen Begriff von Weltgeschichte hat, dem geht er in diesem Wust ähnlich trivialer Sehnsüchte, Alltagssorgen, politischer Plattheiten, sentimentaler Hoffnungen und Existenzängste schnell verloren. Große Zeiten werden halt von kleinen Leuten kreiert. Deshalb ist Krieg offenbar weniger die Fortsetzung der Politik als die der Banalität mit anderen Mitteln. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen, die den Leser in Kempowskis Arrangements stets in einen Strudel des Vergleichens zieht, der mißtrauisch macht gegen antrainierte Gemeinschaftskundeweisheiten und immunisiert gegen volkspädagogisch korrekte Erinnerungsschablonen - dieser bewährte Kunstgriff des aus dem Vollen schöpfenden Archivars wirkt hier weniger virtuos als in älteren „Echoloten“.

Insoweit zeitigt nicht nur die Reduktion auf jeweils drei Wochen negative Konsequenzen. Noch abträglicher ist es dem Ganzen, daß die methodisch konstitutive Vielstimmigkeit wegen dieser Selbstbeschränkung empfindlich leidet. Unter den Äußerungen von Soldaten und Offizieren finden wir allzu oft alte Bekannte von 1943 bzw. 1945, die im Kontext von 1941 inzwischen abgegriffen wirken. Die wiederum verschwenderisch eingestreuten Tagebuch-Notate Thomas Manns aus Pacific Palisades, seine ewig gleiche Hypochondrie, der Gang zur Maniküre, sein Haß auf „Bruder Hitler“, erzeugen zumindest für hartnäckige „Echolot“-Leser kaum noch Kontrasteffekte. Überhaupt häufen sich Auszüge aus Diarien, die (noch) als literarische Grundnahrung gelten: Ernst Jünger, Jochen Klepper, Julien Green, Duff Cooper usw. Gibt es von Wilhelm Lehmann, einem - um im Zeitjargon zu sprechen - „gottbegnadeten“ Naturlyriker, der sich als Gymnasiallehrer in Eckernförde abquälte, nicht auch für 1941 Kommentare, wie sie Kempowski für 1943 zitiert? Natürlich, ebenso wie die Archive in Briefschaften und Tagebüchern noch genug Unveröffentliches bereit halten und zu neuen Fangfahrten auf dem Zeitmeer locken. Das gilt für Literatennachlässe, wäre aber von Kempowski und seinem Arbeitsstab mühelos auf bildende Künstler, Wissenschaftler, hohe Beamte und Unternehmer auszudehnen. Man darf auch unterstellen, daß sein eigener Fundus noch zahllose Dokumente birgt, die den Krieg „von unten“ beleuchten. Merkwürdig zudem, daß offiziöse Quellen wie Zeitungen und Zeitschriften kaum herangezogen werden. Statt dessen verdrängen Erinnerungen solche authentischen Quellen, die fünfzig Jahre später, eigens für Kempowskis Sammlung, niedergeschrieben wurden.

Für den Fortgang des Unternehmens wünscht man sich nicht eine derartige Reduktion, sondern die Steigerung der Komplexität, die angesichts der multimedial verabfolgten Zeitgeschichtshappen allein das Verschwinden der Vergangenheit aufhält. 

Walter Kempowski: Das Echolot. Barbarossa ’41.Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2002, geb., 730 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro


 
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