© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
„Söhne der Pflicht“
Ulrich Siegs Untersuchung über deutsch-jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg
Matthias Bäkermann

Die Umschlaggestaltung dieses Buches gibt Rätsel auf. Die Habilitationsschrift des Marburger Wissenschaftshistorikers Ulrich Sieg über deutsch-jüdische Intellektuelle während des Ersten Weltkriegs kommt schwarz-weiß-rot gewandet daher. Dabei grenzt doch das Zeigen der Farben der alten Reichsfahne heute fast schon an strafbare Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole. Wenn aber - was bei diesem hinlänglich als „liberal“ ausgewiesenen Autor unterstellt werden darf - keine aktuelle Provokation intendiert ist, dann soll vielleicht eine weltanschauliche Affinität zwischen jüdischen Intellektuellen und einer bei Kriegsausbruch unter der Reichsfahne stattfindenden „Sammlung der Geister“ (Rudolf Eucken) angedeutet werden?

Tatsächlich will Sieg eigentlich das Gegenteil beweisen. Sein erstes Angriffsziel ist daher die gängige Vorstellung, daß jüdische Denker und Dichter im Rausch des „Augusterlebnisses“ zum Kriegsdienst mit der Feder antraten, dabei lange auf den kaiserlich proklamierten „Burgfrieden“ vertrauten und erst im Oktober 1916, nachdem das preußische Kriegsministerium die als diskriminierend qualifizierten Erhebungen über die jüdische Beteiligung am Militärdienst anstellte, ins Lager der Opposition wechselten.

So einfach war es natürlich nicht. Darum kann Sieg, gestützt auf neu erschlossene Quellen und deswegen „detailscharf“ - um seine Lieblingsvokabel zu benutzen - ein sehr viel differenzierteres Szenario entfalten. Im Anschluß an jüngste sozial- und mentalitätshistorische Forschungen, die Zweifel an der Geschlossenheit des „Aufbruchs“ vom August 1914 säten, arbeitet Sieg unter jüdischen Intellektuellen ein Spektrum von Reaktionsweisen heraus, das von Anfang an keinen „Kriegskonsens“ erkennen läßt. Mitten im Jubel der Berliner Bevölkerung notierte etwa der Publizist Siegfried Jacobson am 4. August 1914: „Meine Seele ist im Zweifel, ob sie einen Aufschwung nehmen soll.“

Sieg muß nach erster bilderstürmerischer Empörung zugeben, daß das von ihm attackierte Klischee, die positive Überhöhung des Kriegserlebnisses, die bei Martin Buber und Hermann Cohen eine wichtige Rolle spielte, doch bis 1915/16 den Ton angab. Nicht zuletzt deshalb, weil Kriegsideologen wie Cohen den von jüdischen Soldaten, den im Geiste Kants fechtenden „Söhnen der Pflicht“, Schulter an Schulter mit nicht-jüdischen Kameraden durchlittenen Schicksalkampf als wichtige Etappe im Assimilationsprozeß begriffen.

Daß die Materialschlachten und das Massensterben zugleich die Fundamente dieses fortschrittsgläubig-rationalistischen Kulturuniversalismus unterhöhlten, sowie gleichzeitig einen Paradigmenwechsel des geschichtsphilosophischen und politischen Denkens in Nationen, Völkern und Rassen begünstigten, haben Cohen und seine tief vom kantischen Aufklärungsideal geprägten Gesinnungsfreunde wohl nicht verstanden. Dafür profitierten die in Deutschland lebenden Zionisten von diesen ideologischen Umbrüchen am meisten. Ihnen gelang die „charismatische Überhöhung des Nationsbegriffs“, sie verstanden es am besten, das Politische mit religiösen Erwartungen zu füllen. Dabei sei Bubers „Ethnisierung des Nationalismus der innerjüdisch wichtigste Versuch“ gewesen, dem Weltkrieg einen höheren Sinn abzugewinnen.

Die Katalysatorfunktion, die dem Ersten Weltkrieg für die ideologische Neuausrichtung im deutschen Judentum wie für die Neujustierung des deutsch-jüdischen Verhältnis zukommt, legt Sieg sehr anschaulich frei. Zwar hätte er sich dabei seinen Wunsch, ein „schlankes“ Buch zu schreiben, angemessener erfüllen können, wenn er vieles, was wir bei Egmont Zechlin oder Trude Maurer zum Thema „Judenzählung“ oder „Ostjudeneinwanderung“ oder bei Eleonore Lappin über Martin Bubers jungzionistische Zeitschrift Der Jude finden, nicht so breit referiert hätte. Der Krieg verursachte nicht die Sammlung, sondern die - mitunter unversöhnliche - Scheidung der Geister, bis hin zur Radikalisierung des Zionismus im jüdischen, zur Judenfeindschaft im nicht-jüdischen Lager. Damit bildeten sich Frontverläufe heraus, die dann dazu beitrugen, über Wohl und Wehe der Weimarer Republik zu entscheiden. Dieses ist vor allem in den Kapiteln über das Scheitern der von Hermann Cohen propagierten „Emanzipationsideologie“ und die im Messianismus ihr Heil suchende „Geschichtsverzweiflung“ eines Ernst Bloch, eines Franz Rosenzweig und Thedor Lessing eindrucksvoll dargestellt. Matthias Bäkermann

Bild: Martin Buber, um 1920: Eifrig Kriegsdienst mit der Feder geleistet

Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Akademie Verlag, Berlin 2001, geb., 400 Seiten, 44,80 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen