© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Kolumne
Knigge-Defizite
von Klaus Motschmann

Anläßlich des 250. Geburtstages des Freiherrn von Knigge hat die Post vor kurzem eine Sonderbriefmarke herausgegeben. Sie zeigt neben seinem Portrait das Faksimile seines bekanntesten Buches: „Über den Umgang mit Menschen“ - dem berühmten „Knigge“.

Wer hätte das nach über 30 Jahren systematischer Verwahrlosung durch demonstrative Mißachtung aller „bürgelicher“ Umgangsformen gedacht? Offenkundig wächst die Einsicht, daß die Erziehungsziele gegen Anpassung und Fremdbestimmung eben doch erhebliche Probleme im „Umgang mit Menschen“ mit sich bringen, zumindest mit den „ausländischen Mitbürgern“. Deshalb häufen sich seit längerer Zeit von allen möglichen Seiten die Forderungen für mehr „Tolenranz“, für mehr „Menschlichkeit“, für mehr „Sensibilität“, für mehr „Solidarität“, gegen „Gewalt“ und vieles mehr. Wer möchte dagegen etwas sagen?

Es steht schlimm um ein Volk, wenn derartige Defizite im Umgang der Menschen miteinander zu beklagen sind. Immerhin sind die Probleme im Ansatz erkannt. Bedauerlicherweise werden sie aber immer reichlich unsensibel und intolerant behandelt, so daß ernsthafte Zweifel an dieser neuerlichen „moralischen Aufrüstung“ der multikulturellen Zivilgesellschaft vollauf berechtigt sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auf diese Weise die Zersetzung unser „bürgerlichen“, grundgesetzlichen Ordnung mit anderen Mitteln fortgesetzt werden soll. Sie basiert bekanntlich auf der in Jahrhunderten gewachsenen Überzeugung, daß ein zivilisierter Umgang der Menschen und mit Menschen nicht in erster Linie die Achtung von Werten erfordert, sondern auch die Achtung vor dem Recht. „Wertegemeinschaften“ entarten nach reichen Erfahrungen der Geschichte und der Gegenwart über kurz oder lang zu „Gesinnungs-Diktaturen“, in denen jeder Zweifel an bestimmten Werten ausgesprochen intolerante Reaktionen auslöst, beispielsweise in dem Fundamentalismus-Vorwurf gegen bekenntnistreue Christen. Ganz offentsichlich wird weithin erwartet, daß die Christen im Interesse eines friedlichen Miteinanders sich möglichst „sensibel“ und „tolerant“ im Umgang mit Menschen verhalten. Entsprechendes gilt für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen, die bestimmte eigene Werte vertreten - insbesondere den hohen Wert der Bewahrung und Verteidigung einer rechtsstaatlichen Ordnung, die nicht nur die Mehrheit der Anständigen, sondern auch die Minderheit der weniger Anständigen vor den Zwängen einer „Wertegemeinschaft“ schützt.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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