© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Zeitschriftenkritik: Schreibheft
Das Denken vor dem Denken
Werner Olles

57 Ausgaben sind bislang von Schreibheft erschienen. Zweimal jährlich stellt die „Zeitschrift für Literatur“ im Buchformat und ca. 200 Seiten stark avancierte Projekte der Weltliteratur vor. Damit gehört das Schreibheft eindeutig zu den „großen Schwestern“ der kleineren Literaturzeitschriften. Schaut man sich die Themen der letzten Hefte an, wird einem auch schnell klar, daß die Redaktion einem hohen Anspruch verpflichtet ist und sehr bewußt Wert auf besonders anspruchsvolle und artifizielle Texte legt.

Man sucht hier nach einer neuen Begründung und Sicherung des Poetischen mittels der „Droge Sprache“, um damit zu zeigen, daß sich Dichtung „hartnäckig und kontinuierlich den Vorherbestimmungen und Bestimmungen der Geschichte entzieht, obwohl sie selbst aus dem tiefsten Golf der Geschichte entsteht“. Mit einem Denken vor dem Denken will die Zeitschrift diese komplexen poetologischen Überlegungen, die aus dem Keim des Sprachlichen entstehen, in die literarischen Beobachtungen und Lesarten integrieren. So erfährt der Leser in den poetologischen Essays von der Verbundenheit des Autors mit seinem Werk, aber auch vom Handwerk des Schürfens nach Literatur und dem Bilanzieren von Erfahrungen.

In der vorletzten Ausgabe schreibt Peter Schneck in seinem Essay „Kontrastprogramm. Fernsehen mit David Foster Wallace“ über das problematische Verhältnis zwischen Literatur und Fernsehen. Er zitiert den italienischen Philosophen Luciano de Crescenzo, der einmal spöttisch bemerkte, das Leben eines Menschen bestehe im wesentlichen aus drei Phasen: „Revolution, Reflexion, Television“. Am Anfang stehe noch der Wunsch, die Welt zu verändern, am Ende sei man froh, wenn man das Programm wechseln könne. Die Schändung der europäischen Kultur durch die heutigen Zivilisationszerstörungen bescherte uns - folgt man dieser Einschätzung, die wohl nur schwerlich zu widerlegen ist - das traurige Schicksal jener gesellschaftlichen Revolutionen, die wir im Rückblick als Beginn der Postmoderne bezeichnen, und die mit Big Brother „endgültig zu reinen Televisionen“ geworden sind. Es geht bei dieser Kulturkritik jedoch keineswegs um die altbekannte Fernsehschelte, sondern um eine Kette aus Metaphern von Entstehung und Zerfall. Die Gesellschaft als Landschaft des Menschen spielt dabei nur noch die Rolle eines Mikrokosmos, der Organisches und Anorganisches ansaugt und vermischt, wobei die Sprache selbst immer stärker verwest und sich in Organisches verwandelt.

Die jüngste Schreibheft-Ausgabe beschäftigt sich vorrangig mit dem klassischen Werk von Herman Melville. Friedhelm Rathjen ist hier mit der Übersetzung der Kapitel XXIV - LII von Melvilles „Moby Dick; oder: Der Wal“ ein sprachschöpferisches Kunstwerk gelungen, das dem heutigen deutschsprachigen Leser eine ähnlich verstörte Fremdheit vermittelt, wie sie der heutige amerikanische Leser wohl angesichts des „alten“ Melville empfindet. 

Rigoden-Verlag. Nieberdingstr. 18, 45147 Essen


 
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