© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Pankraz,
Suppenwürfel und der Wahn unter den Brücken

Wahn, Wahn, überall Wahn, wohin ich forschend blick“, singt Hans Sachs, als säße er nicht bei den Meistersingern in Nürnberg, sondern in einem Zugabteil der Bundesbahn auf der Fahrt von Aachen nach Chemnitz oder von Kiel nach Basel oder von Villingen nach Schwenningen oder von Annaberg nach Buchholz.

Was sieht er da, sobald er einen Blick aus dem Abteilfenster riskiert? Wiesen? Bäume? Häuser? Vor allem sieht er Graffiti, welche unbekannte Heinzelmännchen nächtlicherweile an Häuserwände und Brückenbögen, Stellwerke und Lokomotivhallen gesprüht haben, Graffiti, Graffiti und immer noch einmal Graffiti. Und es sind Hervorbringungen von offenbar Wahnsinnigen: zur Ballondicke aufgequollene Buchstabenkombinationen in grellen Giftfarben und in wildester Bewegung, zerfleischte Pferde- und Hundekörper ohne Kopf und Instinkt, kosmische Augen, verwehende Sonnen, gemalte Alpträume der tristesten Art.

An den abenteuerlichsten, unzugänglichsten Stellen finden sich diese Graffiti, mitten in der Großstadt an den hintersten Ecken von Wolkenkratzern, wohin die Sprüher nur unter Lebensgefahr und unter verwegendsten Körperverrenkungen gelangt sein können, aber auch fern im Wald, wo sich ein verschwiegenes kleines Brücklein über stille Bäche wölbt - auch dahin haben die Künstler gefunden, obwohl ihre Werke dort allenfalls von Füchsen und Wildschweinen wahrgenommen werden. Die Werke sind sich selbst genug. Wo kommt das her? Was geht hier vor?

Gibt man im Internet das Suchwort „Graffiti“ ein, so gerät man an eine Schar von erklärtermaßen gesellschaftskritischen, wild revolutionären Hip-Hop-Typen, die sich bei Nacht Fangspiele mit der Polizei liefern, nach dem Motto: Wer ist eher an der Wand, der Sprüher oder der Gesetzeshüter? Parallel dazu gibt es Berichte über Eingaben empörter Parlamentarier, die die Regierung ersuchen, endlich etwas gegen die unerträglichen Schmierereien an Zäunen und Häuserwänden zu unternehmen. Es gibt Klagen darüber, daß die Kosten für die Entfernung der Schmierereien mittlerweile in die Milliarden gehen.

Man lernt, daß die scheinbare Begrenzung der Sprühwerke auf Hinterhöfe und Unterführungen sich lediglich den Bemühungen aufmerksamer Ordnungskräfte und fleißiger Putzkolonnen verdankt. Gäbe es Ordnungskräfte und Putzkolonnen nicht, so würden die Sprüher sofort gegen die Vorderfronten der Innenstädte vorrücken und sie mit grellen Buchstabenbatterien und höllischen Kadaverstrecken überschwemmen. Den werktätigen Massen, die allmorgendlich mit der S- und U-Bahn oder mit dem Vorortzug zur Arbeit fahren, würden die Augen übergehen angesichts des manifest gewordenen Fleißes der revolutionären Sprühkommandos.

Mit der revolutionären Gesinnung dieser Kommandos ist es aber nicht weit her. Politische Motive, gar Parolen und Hetzsprüche, sind die absolute Ausnahme, scheinen das Werk von Trittbrettfahrern zu sein, die nicht zur „Szene“ gehören, sondern sie nur für momentane Aktionen ausnutzen. Die eigentlichen Herren der Szene neigen ganz offensichtlich einem dezidierten Anarcho-Kapitalismus zu, der darauf aus ist, die Schmierereien peu à peu aus der Illegalität herauszuführen und mit ihnen gute, lukrative Geschäfte zu machen. Gibt es nicht eine ganze Menge von Firmen und Gebäudebesitzern, die überhaupt nichts dagegen hätten, wenn ihre grauen Hinterfronten ein bißchen kulturrevoluionär bunt eingefärbt würden?

Schon haben sich Agenturen etabliert, die die Marktlücke und das angebotsorientierte Potential erkannt haben und sich als Vermittler zwischen Sprühern und Industrie ins Spiel bringen. Die Firma „Oxygen“ in Frankfurt am Main (Inhaber: Kuros A. Rafii) hat den legendären Obersprüher „Can2“, der früher immer wieder von der Polizei aufgegriffen und von den Gerichten dann regelmäßig zum Laubharken verurteilt wurde, unter Vertrag genommen. Offizielle Kunden von Oxygen und Can2 waren seitdem unter andrem die Deutsche Bundesbahn, die eine Unterführung in Rüsselsheim einsprühen ließ, und die Firma Marks & Spencer (Besprühung eines Bauzauns an der Frankfurter „Zeil“).

Zur Zeit tobt, wenn Pankraz richtig belehrt ist, ein erbitterter Streit zwischen Oxygen & Co. auf der einen und den „Hardlinern“ der Szene auf der anderen Seite. Diese weisen darauf hin, daß die Illegalität und Kriminalität der Graffitikunst unverzichtbar zu ihrem Wesen dazugehöre, daß es eine Verfälschung und Verflachung wäre, wenn die Sachen nicht mehr im nächtlichen Dauerkrieg mit der Polizei hergestellt würden. Auch ein in Wien tagender „Kongreß zur Graffiti-Forschung“ sprach sich in der Mehrheit seiner Beiträge gegen die Legalisierung und kapitalistische Verwertung der Graffitikunst aus.

Es war dies freilich ein Streit um des Kaisers Bart. Denn es geht der Bewegung ja nicht um einige Bauzäune und Unterführungen, sondern buchstäblich ums Ganze, um die flächendeckende Bildhoheit in Stadt und Land. Der Anspruch ist total, er quillt aus allen Ecken, und es ist der Wahnsinn, der da quillt, der Schrei der irren Seelen.

Jeder Psychiater sieht das, und der kleine S-Bahn- und Vorortzugbenutzer, der an sich gern aus dem Fenster blickt, sieht es auch. Kürzlich rief einer im Maggi-Kochstudio an, stammelte entsetzt: „Paßt auf, da verschandelt euch einer hinten die Fassade!“ Die Maggi-Manager lächelten überlegen, beruhigten den Mann, versicherten ihm, daß alles mit rechten Dingen zugehe und daß der Künstler im Auftrag von Maggi tätig sei.

Daß der Künstler im Auftrag von Maggi sprühte, daran war tatsächlich kein Zweifel. Zweifeln konnte man aber, ob deshalb wirklich alles mit rechten Dingen zuging. Suppenwürfel und Irrenhaus mögen sich miteinander vertragen, doch daraus folgt nicht mit zwingender Logik, daß das Irrenhaus die dem Menschen angemessene Form der Unterbringung ist.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen