© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm
Korsika: Französische Richter haben die Autonomiepläne für verfassungsfeindlich erklärt / „Europäische Perspektive“ oder weiterer Terror?
Charles Brant

Verfolgt man die aktuellen Debatten in Frankreich, scheint sich über die Korsika-Frage ein bleiernes Schweigen gesenkt zu haben - auch im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf. Der „Anti-Chirac-Richter“ Eric Halphen plaudert aus der Schule und hat einiges zu erzählen über den Schmiergeldskandal um den Pariser HLM-Sozialwohnungsbau - und liefert so Munition für die Mitbewerber von Jaques Chirac beim Kampf ums Präsidentenamt. Das Thema Korsika spielt keine Rolle.

Doch die scheinbare Ruhe trügt. Obwohl die „Jakobiner“ der Rechten und der Linken einen vorläufigen Sieg davongetragen haben, wollen die Korsen sich dem französischen Recht nicht fügen, das sie zu erdrosseln droht. Statt dessen strecken sie vorsichtige Fühler in Richtung der Alternative Europa aus.

Um Korsika ist es still geworden. Vergessen sind die politischen Turbulenzen der letzten Jahre: die teilweise blutigen Terroranschläge, die Verhandlungen, der Prozeß gegen den korsischen Präfekten Bernard Bonnet. Vergessen sind auch die Polemiken, die wirtschaftliche Not der Insulaner und die Tatsache, daß Bastia und Bonifacio den Küsten des italienischen Stiefels nicht nur geographisch näher sind als dem südfranzösischen Marseille. Der Grund für diese plötzliche Stille liegt in einer Entscheidung der neun Weisen des Verfassungsrates: Am 17. Januar erklärte der Rat eine Gesetzgebung für verfassungsfeindlich, die den Korsen gestattet hätte, einen Plan für ihre Autonomie zu erarbeiten. Damit war das Versprechen einer „institutionellen Evolution“ ad acta gelegt. Kein Wunder, hatten doch dieselben Hüter der jakobinischen Orthodoxie schon vor Jahren den Begriff eines „Korsischen Volkes“ verworfen.

Die Geschichte des „Prozesses von Matignon“ liest sich wie das Drehbuch zu einem Psychodrama. Sie läßt sämtliche Wahnvorstellungen einer verkrusteten politischen Klasse aufscheinen, die an ihrer eigenen Schwerfälligkeit krankt, nur in den Schranken ihres Modells einer französischen Einheit und Einzigartigkeit denken zu können. Die Handlung dieses Films beginnt am 6. Februar 1998 mit einem blutigen Schlag gegen die Zentralmacht - der Ermordung des Präfekten Claude Erignac auf offener Straße in Ajaccio. Ein neuer Präfekt wird ernannt, um die Mörder zu ergreifen und die Ordnung wiederherzustellen. Sein Name: Bernard Bonnet. Im Frühjahr 1999 nimmt das Drama geradezu bizarre Züge an, als die Affäre um Strandgaststätten auffliegt, die von Gendarmen abgebrannt wurden, um die korsische Unabhängigkeitsbewegung in Mißkredit zu bringen. Die Staatsgewalt verliert zunehmend an Glaubwürdigkeit, zumal die Gendarmen behaupten, auf Befehl des Präfekten Bonnet gehandelt zu haben. Dieser wiederum verteidigt sich, indem er mit dem Finger auf Berater des Premierministers zeigt.

Im September 1999 begibt sich der Sozialist Lionel Jospin höchstpersönlich auf die „Insel der Schönheit“, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, die „Abkehr von der Gewalt“ sei eine unabdingbare Voraussetzung jeder „institutionellen Evolution“. Zwei Monate später lädt er alle gewählten korsischen Volksvertreter - darunter auch die Nationalisten - zu Verhandlungen ein. Der „Prozeß von Matignon“ beginnt am 13. Dezember 1999 und kulminiert im Juli 2000 in der erklärten Bereitschaft seitens der Regierung, der Korsischen Versammlung bedingte gesetzgebende Kompetenzen zu erteilen und in gewissen Fragen den Willen einer Delegation korsischer Abgeordneter zu berücksichtigen. Zugleich wurde für das Jahr 2004 die Einleitung einer zweiten Etappe anvisiert, die in eine Verfassungsänderung münden sollte. So weit war der französische Zentralstaat noch nie von seinen Prinzipien einer unteilbaren Republik abgewichen.

Wie kaum anders zu erwarten war, zog dieser Plan alsbald den Zorn linker wie rechter „Jakobiner“ - oder Zentralisten - auf sich. Allen voran der damalige Innenminister (und heutige Präsidentschaftskandidat) Jean-Pierre Chevènement, der am 30. August 2000 seinen Rücktritt erklärte - aus Protest gegen einen Gesetzesentwurf, der „darauf angelegt ist, die Einheit Frankreichs zu zerstören“. In der Folge versteiften sich die Positionen weiter. Rechte Regionalvorsitzende wie der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing (UDF) oder François Fillon (RPR) teilten Chevènements Nachfolger Daniel Vaillant mit, daß sie einer „korsischen Sonderregelung“ die Zustimmung verweigerten, und forderten statt dessen eine „Devolution“ der Macht für sämtliche Regionen auf französischem Staatsgebiet. Von den politischen Entwicklungen überrollt oder im Bemühen, die Wogen zu glätten, ergänzte Vaillant im Frühjahr 2001 seinen Gesetzentwurf zur „Demokratie aus der Nähe“ um Dezentralisierungsmaßnahmen.

Der Streit um das Korsika-Gesetz, das am 22. Mai 2000 in erster Lesung mit 287 (darunter 23 Abgeordnete der Rechten) gegen 217 Stimmen ratifiziert wurde, war damit nicht verstummt. Seine Gegner kritisieren vehement den „Ausnahmestatus“, der Korsika damit verliehen würde. In Wirklichkeit gibt es jedoch wenig Grund zur Aufregung. Der Gesetzestext sieht lediglich vor, der Korsischen Versammlung legislative und regulierende Aufgaben zu übertragen, die parlamentarischer Kontrolle unterstehen. Die Macht des Parlamentes ist somit nicht in Frage gestellt.

Das korsische Drama nimmt indes seinen Lauf: Am 17. August 2000 wird der Nationalist François Santoni ermordet: Anlaß genug für Jean-Guy Talamoni, Chef der Corsica Nazione, die Beteiligung der korsischen Nationalisten am „Prozeß von Matignon“ bis auf weiteres aufzukündigen. Den nächsten Akt läutet der Innenminister ein, als er im Oktober ankündigt, in der korsischen Stadt Borgo ein Gefängnis zu bauen, das auf dem Festland festgenommene korsische politische Häftlinge beherbergen soll. Nun muß sich Vaillant vorwerfen lassen, den Nationalisten ein Zuckerl gegeben zu haben. Die Morde und Attentate gehen weiter, ohne daß der gebannte Zuschauer erfährt, ob hier rivalisierende Fraktionen korsischer Nationalisten miteinander abrechnen - oder ob die Erschütterungen nicht vielmehr aus einer ganz anderen Richtung kommen.

Im Namen der sakrosankten „Unteilbarkeit der Republik“ und unter dem Vorwand, „die Heimat in Gefahr“ zu sehen, wird gegen die korsische Autonomie mobil gemacht. Die einen leugnen die Legitimität eines vom geltenden Recht abweichenden Sonderstatus, wie ihn andere europäische Inseln genießen, etwa Korsikas italienische Nachbarinsel Sardinien. Die anderen fordern eine Volksabstimmung, die beweisen soll, daß die Korsen französisch bleiben wollen. Auch darüber, daß die korsische Sprache unterrichtet wird, regt man sich auf, gefährde dies doch die Vorrangstellung des Französischen.

Diese Kritik dient wiederum anderen als willkommener Anlaß für einen Rundumschlag gegen den Bretonischunterricht in der Bretagne oder den Deutschunterricht im Elsaß. In der Presse wittern die Kassandras Morgenluft, die vor „europäistischen Machenschaften“ und dem „Abriß des französischen Staatsgerüstes“ warnen.

Bei der letzten Lesung am 18. Dezember 2001 wagten nur noch zwei rechtsbürgerliche Mitglieder der Nationalversammlung, Raymond Barre und François Léotard, dem Korsika-Gesetz ihre Zustimmung zu geben. Das Gesetz ist damit angenommen - kein Grund für seine Gegner, ihren Kampf aufzugeben. Zwei Senatoren aus der Chevènement’schen Ecke und 107 rechte Abgeordnete legten Beschwerde vor dem Verfassungsrat ein, der am 17. Januar sein Urteil fällte. Der wichtigste Teil des Gesetzes, mit dem der korsischen Territorialversammlung schrittweise legislative Kompetenzen erteilt werden, wurde abgelehnt. Chevènement feixte, und Präsident Jacques Chirac gratulierte sich dazu, daß Korsika weiterhin „fest in der Republik verankert“ bleibe, nachdem das Gesetz seiner Substanz beraubt worden war. Ende gut, alles gut?

Seitdem ist Korsika mehr oder weniger von der politischen Tagesordnung verschwunden. Das Gerichtsverfahren gegen Bonnet endete in einer Verurteilung ohne öffentlichen Nachhall. Die Statistik stellt lapidar 140 Mordversuche und 28 Morde auf der Insel im Jahr 2001 fest. Im Präsidentschaftswahlkampf ist bislang kein Wort zum Thema Korsika gefallen, und die korsischen Nationalisten ihrerseits haben beschlossen, keine Wahlempfehlung auszusprechen, sondern ihre gesamte Hoffnung auf das Jahr 2004 zu setzen.

Vor diesem Hintergrund war der Amtsbesuch des Vorsitzenden der Korsischen Versammlung, José Rossi, in Barcelona ein bemerkenswerter Schritt. Das katalanische Parlament begrüßte ihn als „Vertreter des korsischen Volkes“, wie Le Monde am 19. Februar schrieb. Rossi folgte einer Einladung Jordi Pujols, des Vorsitzenden der Generalversammlung des (autonomen) Katalanien, um sich Vorschläge zur Integration der Regionen des nördlichen Mittelmeerraums anzuhören. Vor allem aber konnte er sich ein Bild davon machen, über welches Ausmaß an Macht die katalanischen Behörden im Spanischen Königreich verfügen, welche Bedeutung es hat, daß sie ihren Haushalt zu 86 Prozent aus eigenen Ressourcen bestreiteten - und wie groß der Graben ist, der das zentralistische Frankreich von anderen Staaten Europas trennt!

Nicht zuletzt hatte Rossi Gelegenheit, mit eigenen Augen den Erfolg der linguistischen Reform zu bewundern, welche die Katalanen erwirkt haben. Niemand braucht sich zu wundern, daß Rossi mit dem festen Vorsatz aus Barcelona zurückkehrte, dem zukünftigem Präsidenten der französischen Republik „die konstitutionelle Festschreibung einer echten Lokalmacht, wie sie überall sonst in Europa existiert“, abzuringen.


 
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