© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Zeitschriftenkritik: Entwürfe
Grenzen sprengen
Werner Olles

Die 1991 unter dem Namen Entwürfe für Literatur und Gesellschaft gegründete Schweizer Literaturzeitschrift fusionierte 1995 mit der Zeitschrift Zündschrift - Forum für Schreibende und trägt seither ihren heutigen Namen Entwürfe. Viermal jährlich beleuchtet sie ein aktuelles Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. Neben Essays, Lyrik und Prosa, literarischen Debatten, bislang unveröffentlichten Fotoessays und ausführlichen Kritiken bemerkenswerter Publikationen erproben hier Künstler das Zusammenspiel von visuellem Ausdruck und Sprache.

Es sind vor allem junge Schriftsteller aus dem deutschen Sprachraum, die in einer von allgemeiner Sprachlosigkeit gekennzeichneten Zeit und Gesellschaft in Entwürfe die Grenzen sprengen. Seit in den diversen Zeitungsfeuilletons Lässig- und Läppischkeiten Einzug gehalten haben, die mit ihren dahingekleckerten Sätzchen und Bildchen vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wären, sind solche literarischen Bemühungen nicht hoch genug zu bewerten.

Die aktuelle Ausgabe von Entwürfe befaßt sich mit dem Thema „Mobile Home“. Gleichwohl geht es primär nicht ums Reisen, weil - wie es im Editorial heißt - „die Qualität von Reiseberichten immer auf der Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Gesehenen beruhte“. Der homo mobilis scheine jedoch gerade vor den Strapazen der Erfahrung fliehen zu wollen. So reist beispielsweise in dem neuen Roman des amerikanischen Schriftstellers Walter Kirn dessen Protagonist Ryan Bingham von Firma zu Firma und feuert Angestellte, aber seine Passion gilt dem Sammeln von Vielflieger-Meilen. Eine Million will er zusammenbekommen, bevor ihm selbst gekündigt wird. Damit wird deutlich, daß das „mobile“ weitgehend eine Frage der Technik und des Geldes ist, während die Frage nach dem „home“ unsere Seele, unsere Identität betrifft.

In diesem Kontext fragt Entwürfe sich und seine Leser, ob denn unsere Seele überhaupt noch eine Zukunft hat. Und haben wir nicht längst unsere Identität der Fluggesellschaft überlassen, mit der wir gerade irgendwo in der Welt unterwegs sind? Ist uns diese Paralellwelt der Flughäfen und Hotelketten nicht bereits zu einer Heimat geworden, die mit der übrigen Welt immer besser konkurrieren kann? Andere Beiträge reflektieren die Differenz zwischen Reisen und „rasendem Stillstand“ oder greifen den Gedanken von der Schrift als mobile Heimat auf. Uralt ist auch die Idee, die Sprache sei eine Heimat. Wenn aber inzwischen mehr als siebzig Prozent der Weltbevölkerung in Metropolen leben, die sich durch ein ständiges Kommen und Gehen auszeichnen, kann die Stadt keine Heimat mehr sein, sondern fungiert nur noch als Kulisse für heterogene Kulturen, in denen sich sowohl die Einheimischen als auch die Fremden fremd fühlen.

Aber auch das Internet bildet eine „neue Dimension des Zuhause“, wie ein anderer Autor schreibt. Im virtuellen Cyberspace könne sich jedermann ein Zuhause schaffen, das losgelöst ist von jeglicher Örtlichkeit. Im Zeitalter der Globalisierung wird Heimat also zunehmend zur Einstellung.

Anschrift: Neugasse 6, CH - 8005 Zürich. Das Jahresabo kostet 90 sFr (60 Euro).


 
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