© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Abbilder kosmischer Harmonie
Ausstellung: „Die Griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin
Wolfgang Saur

Jacob Burckhardt, kritischer Prophet seines Jahrhunderts, war als bürgerlicher Humanist auch ein Philhellene und Laudator der neuerwachten klassischen Norm in der Renaissance. Seine Liebe zur deutschen Kultur kühlte sich ab, als in der lauten Dynamik des jungen Reichs sich die Umrisse einer düsteren Zukunft abzeichneten. Erschreckt schreibt er in einem Brief über seinen Berliner Aufenthalt 1882: Inzwischen habe die Stadt für ihn „etwas Tödliches“ angenommen, es sei für ihn unmöglich, dort zu existieren, „die Menschen dort haben ein gewisses Etwas, wogegen ich mich hilflos fühle und konkurrenzunfähig bin“. Tatsächlich war es das Schicksal Berlins, im späten 19. und 20. Jahrhundert mehr als andere europäische Städte aktiver Träger oder auch Schauplatz der Moderne in all ihren Facetten zu werden und damit auch zu einem Antipoden alles Klassischen, so daß Fontane, zu Recht bemerkte: „Das Moderne steht dem Klassischen gegenüber. Das Allermodernste aber, das Unklassischste, was wir kennen, ist das Berlinische!“

Das war nicht immer so. Auch für Berlin und sein brandenburgisches Herrscherhaus gilt, wie für Europa überhaupt, eine vielfältige Auseinandersetzung mit ethischen Werten und ästhetischen Modellen der griechisch-römischen Überlieferung. Das Abendland seit je ist gewachsen und wurde geformt durch das antike Erbe, so daß Oswald Spengler im „Untergang“ befremdet feststellen konnte, das Beispiel des europäischen Antikenkults sei weltgeschichtlich einmalig. Doch gehört zum Klassischen stets auch sein Widerpart, der in immer neue Rollen schlüpft und auf der Bühne erscheint als: das „Gotische“, „Barocke“, „Romantische“, weit verstanden als manieristische Stile und Mentalitäten im Glauben, die klassische Norm werde dem Menschen, seinen zeitlichen und ewigen Problemen nicht gerecht. Kämpfen beide miteinander, bleiben sie doch feindliche Brüder. „Vollendung“ und „Unendlichkeit“ werden von der geschichtlichen Bewegung als ganzer umfaßt, wie man an der Einheit von Klassizismus und Romantik gerade in Preußen sieht.

Das hat nun die Länder Berlin und Brandenburg nach der erfolgreichen Zusammenarbeit im Preußenjahr inspiriert, das gemeinsame Kulturjahr 2002 dem Thema „Klassik und Romantik“ zu widmen, wobei sich Berlin ganz auf „das Klassische“ konzentriert, Potsdam indes mit Expositionen und wissenschaftlicher Besinnung zur „Romantisierung der Mark“ aufwartet.

Der zentrale Berliner Programmpunkt fiel jetzt auf den 1. März mit einer Ausstellungseröffnung im Martin-Gropius-Bau. „Die griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit“, von der hiesigen Antikensammlung und ihrem Direktor, Wolf-Dieter Heilmeyer, seit 1998 vorbereitet, fügt sich als metropolitanes Museumsereignis gleich einem Markstein in den Kontext museologischer und altertumskundlicher Bemühungen der letzten Jahrzehnte ein. Gelehrte Zusammenkünfte („Klassik im Vergleich“, 1990; „Klassik als exemplarische Bewältigung der Geschichte“, 1991) und große Berliner Ausstellungen („Berlin und die Antike“, 1979 oder „Kaiser Augustus und die römische Republik“, 1988) haben konzeptionell der aktuellen Retrospektive vorgearbeitet.

Was will diese anspruchsvolle Umschau leisten? „Wir lernen sehend den Begriff einer Norm begreifen“, erklärte Peter-Klaus Schuster, Generaldirektor der Staatlichen Museen. Das Neue dieses Klassikbildes besteht in der einzigartigen Dichte der Darstellung vielfach neuer Funde und archäologischer Erkenntnisse mit einem bislang unerhörten Differenzierungsgrad. Der umfangreiche Begleitkatalog tritt auf als neues Standardwerk der Altertumswissenschaften für die nächsten 15 Jahre.

Gleichzeitig führt uns das Museum seinen Gegenstand als „Schaubühne der Klassik“ vor, die der theatergewohnte Karl-Ernst Herrmann behutsam inszeniert hat. Der Lichthof des Gropius-Baus ist umfunktioniert zu einer imaginären Agora. Diese ist mit den weltberühmten Plastiken der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, den legendären drei Amazonen aus Ephesos sowie der Nike des Paionios als ästhetischer Auftakt gestaltet und wird in den kommenden Wochen als Begegnungsraum gelehrter Symposien, für Konzert und Theater dienen. Die das Raumzentrum umschließenden Säulengänge führen den Besucher sodann in die 18 Säle seines „Initiationsweges“ zur Klassik, auf dem er acht Themenkomplexe passiert. Mit über 700 Objekten von 110 Leihgebern versuchen Archäologen die Welt des klassischen Griechenland, dessen Voraussetzungen und Umfeld, die Phänomenalität der Klassik und ihre Wirkungsgeschichte bis auf die Gegenwart zu veranschaulichen.

Die eigentlich „klassische Zeit“, so faßten es die Alten selbst, ist durch die erfolgreiche Zurückweisung der persischen Expansion und den Tod Alexanders (479-323 v. Chr.) markiert. Danach universalisierte die hellenistische Epoche die kulturellen Innovationen, zu denen politische (Demokratie), ästhetische (Kanon) und epistemologische (Philosophie und Wissenschaft) Konzepte gehörten, wobei die Inkulturation jeweils selbst individualschöpferisch verfuhr. Einen Ansatzpunkt zum Verständnis griechischen Wesens bieten die Worte des Diogenes Laertius, die als emblematische Umschrift einen dekorativen Wandfries im Eingangsraum bilden: „Wie danke ich den Göttern, daß ich ein Mensch und kein Tier, daß ich ein Mann und kein Weib, daß ich Hellene und kein Barbar bin.“ Sie verdeutlichen den anthropozentrischen, den maskulinen und den zivilisatorischen Superioritätsaspekt Athens.

Dies wird in der Ausstellung zunächst sinnfällig durch eine Vielzahl herrlicher Plastiken, die die menschliche Schönheit im idealisierten Ausdruck der Kunst, als Widerschein einer universalen kosmischen Harmonie preisen. Tatsächlich waren die Griechen besessen von der Gestaltung des Menschen. Man wird hier an Spengler erinnert, der als Ursymbol antiken Lebens die vollplastische Figur als „apollinisches Prinzip“ bestimmt hat. Die künstlerische Darstellung zielte auf einen idealen Realismus, wie es die Formgebung des „Doryphoros“ durch Polyklet beispielhaft zeigt. Diese Musterstatue ist das gestalterische Resultat vielfacher Vermessungen und geometrischer Rekonstruktion des menschlichen Körpers, um den idealen Entwurf der Natur, einen „Idealtyp“ von Leiblichkeit zu ermitteln. Im Kontrast von Ruhe und Bewegung ist der Körper mit sich im Einklang. Geschlossenheit, Natürlichkeit, Detail, Symmetrie und Rhythmus kennzeichnen die gesamte Klassik und begründeten ebenso die Porträtkunst wie die spätere Architekturentwicklung.

Herausragend der Parthenon auf der Akropolis, der in seiner endgültigen Form 433, nach dem Sieg der Stadt über Perser und Spartaner, fertiggestellt wurde. Hier präsentieren die Ausstellungsmacher große Modelle mit Originalstücken und Konstruktionszeichnungen. Ergänzt wird das Thema des gestalteten Raumes in der Darstellung des alltäglichen Wohnens: das Haus, die Innenräume und seine Bewohner. Ein benachbarter Komplex thematisiert „Politik und Öffentlichkeit“: Er behandelt das Demokratieproblem, analysiert die athenische Sozialstruktur, Religiosität und Kultausübung und wendet sich schließlich „Sport und Wettkampf“ zu. Das agonale Element des Griechentums fällt in der Tat auf, es verbindet sich mit dem maskulinen Aspekt und erfüllt sich im Ideal der „Kalokagathia“, die ebenso körperliche wie geistig-moralische Qualitäten ausdrückt: Tapferkeit, Tugend, Kraft und Schönheit des trainierten Körpers.

Schon die Zeitgenossen erahnten den Vorbildcharakter der Klassik. Zur ersten bewußten Renaissance wurde dann die „augusteische Klassik“ in Rom: Auftakt zu allen „Renaissancen und Klassizismen“ seither. Diese letzte Abteilung erregt besonderes Interesse. Sie dokumentiert die historisch unterschiedlichsten Rezeptionsgestalten, samt der wechselnden politischen Auslegung, die der klassischen Norm zuteil wurde. Demokratisch war die Architekturrezeption Vitruvs und Palladios bei Thomas Jefferson (1743-1826) inspiriert; in der Anlage des Universitätscampus von Virginia suchte er, nicht „einzelne antike Gebäude nachzubauen, sondern dem Besucher die Harmonie der antiken Maßverhältnisse als Symbol politischer Tugend vor Augen zu führen“ (Eule).

Ganz anders die monumentalen Neoklassizismen des 20. Jahrhunderts. Raum 18 stellt die protzigen Pavillons des nationalsozialistischen Deutschland und des sowjetischen Rußland auf der Pariser Weltausstellung 1937 einander gegenüber. Über einen Monitor flimmern die mythopoetischen Bilder Leni Riefenstahls aus ihren Olympia-Filmen.

Faszinierend auch die Werke der Leningrader „Neoakademisten“, die in Orientierung an klassischem Ideal und dem Mythos der „Hyperboreer“ in den Neunzigern seltsam phantasmagorische Werke im postmodernen Spiel mit Formen und Techniken erschaffen. Der Verweis auf westliche Vorbilder wie Mapplethorpe oder Pierre und Gilles und die magische Idee eines bildnerischen „Erleuchtens der Gestalt“ deuten einmal mehr auf das kryptoschwule Motiv im philhellenischen Interessenszenarium hin.

Der große Ernst und das Repräsentative dieser Klassikschau strafen einmal mehr diejenigen Lügen, die das leidenschaftliche Interesse der Deutschen am Griechentum - von Winckelmann über Schleiermacher bis Heidegger - als hirnverbrannten Quatsch und weiteren „Sonderweg“ stigmatisieren, nur um die eigene Ignoranz zu kaschieren. Aber auch der griechische Staat sollte dieser Tradition dankbar sein, anstatt begehrlichkeitshalber alt-neue Sympathien zu opfern. Sein Kulturminister Venizelos beschwor in seiner Ansprache die „griechische Bedeutung der Universalität“ als Alternativkonzept zur „tristen Gleichförmigkeit der Globalisierung“. Ein bedenkenswerter Hinweis immerhin.

 

Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, ist bis zum 2. Juni täglich außer dienstags von 10 bis 20 Uhr, Sa. bis 22 Uhr, zu sehen. Eintritt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro), der Katalog mit 800 Seiten kostet in der Ausstellung 25,50 Euro. Info: 030 / 25 48 67 78, Internet: www.klassik2002.de 


 
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