© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Pankraz,
der Tastsinn und die Babys von Tübingen

Groß herausgestellt hat der soeben beendete fünfte deutsche Kongreß für Wahrnehmungsphysiologie in Tübingen, daß Babys an ihrem Gegenüber zuerst nicht die Augen und nicht die Nase, sondern den Mund wahrnehmen, den sich bewegenden, sprechenden Mund. Einige Referenten haben daraus geschlossen, daß die Babys aus der Beobachtung der Mundbewegungen schon irgend etwas „lernen“, Sprachabläufe, Sprachordnungen.

Pankraz erscheint das als zu weit hergeholt. Nicht das Sehen ist für das Neugeborene das erste Wahrnehmungsgeschäft, sondern das Tasten. Der Tastsinn ist entwicklungsbiologisch der primäre Sinn. Das Baby ist zunächst ein Tasttier, bevor es ein Augentier wird. Seine ersten Lernhandlungen sind Tastvorgänge.

Oft heißt es ja, das Auge sei das wichtigste Wahrnehmungsorgan, aber das stimmt schon insofern nicht, als man ohne den Gesichtssinn leben kann, ohne den Tastsinn aber nicht. Leben an seinem Ursprung ist Ertastung, der Tastsinn ist das originäre Scharnier zur Außenwelt und dadurch auch Ursprung des Ich-Gefühls.

Das Baby hat noch kein Ich, und um sich dahin aufzubauen, um Innerlichkeit zu gewinnen, ist es unermüdlich damit beschäftigt, allernächste Kontaktreize zu gewinnen, Tastreize. Es grapscht und tastet, mit den Händchen, mit dem Mund, doch auch mit dem ganzen übrigen Körper, der im Grunde in diesem Frühstadium eine einzige Tastmaschine ist.

Ist es denn bei den Erwachsenen wesentlich anders? Auch der Erwachsenenkörper ist eine einzige Tastmaschine. Im Gegensatz zu den anderen Sinnen ist der Tastsinn nicht auf ein bestimmtes, eng umgrenztes Körperorgan eingeschränkt; Tastzellen haben wir überall, hier und da mehr oder weniger, aber doch an sämtlichen Stellen des Körpers; es gibt keine Stelle, die nicht empfindlich wäre, die nicht auf Tastreiz reagieren würde.

Der Tastsinn ist auch der einzige Sinn, der aktiv und passiv zugleich ist. Sehen ist aktiv, ich sehe auf etwas, und der Gesehene, so er ein bewußtes Wesen ist, fühlt sich „erblickt“ und reagiert darauf, wie etwa Löwen oder Gorillas, mit äußerster Aggressivität. Schmecken und Riechen sind passiv; man kann nicht irgendwie hinausriechen oder hinausschmecken, sondern muß darauf warten, daß einem Geschmacks- oder Geruchspartikel in die Nase oder zwischen die Zähnen geraten.

Auch Hören ist passiv, wenn wir auch mit dem Kehlkopf, der Stimme, die Möglichkeit haben, Hörbares jederzeit in körperlicher Unmittelbarkeit zu erzeugen; aber der Kehlkopf ist kein Sinnesorgan, und das Ohr erzeugt nichts. Einzig der Tastsinn ist beides, Sender und Empfänger in einem. Indem ich taste, löse ich beim Anderen dessenseits den Tastreiz aus, und umgekehrt.

Der Tastsinn ist der einzige Sinn, der kein Fernsinn ist, dessen Reize also nicht per Welle und Korpuskel sich vom wahrgenommenen Objekt loslösen und zu uns hergeschwebt kommen, um hier erst von Nerv und Gehirn registriert zu werden. Selbst der scheinbar ebenfalls „unmittelbare“ Geschmackssinn kann da nicht mithalten. Bevor wir die Schokolade, die wir in den Mund genommen haben, schmecken, ihre Süße oder Bitternis registrieren können, spüren wir sie schon, haben sie ertastet.

Diese Unmittelbarkeit macht den Tastsinn zum eigentlichen Wahrheitssinn in unserem Gefühlshaushalt. Für ihn gilt am wenigsten, was die Rationalisten den Sinnen insgesamt vorwerfen, nämlich daß sie täuschen, daß sie eine wesenlose Qualität konstituieren, die vom Verstand erst mühsam in Quantität umgesetzt werden müsse. Beim Tastsinn sind Qualität und Quantität ganz eng zusammengerückt, vielleicht sogar identisch. Der Tastsinn liefert durchaus Qualität, aber er liefert auch Quantität, Dimension, ausmeßbare und schließlich berechenbare Dimension.

Von solcher Ursprünglichkeit und Komplexität zeugt ja auch die Etymologie der Sprache, zumindest im Deutschen. Die philosophische Grundeinheit, mit der wir hantieren, heißt nicht „Idee“ (also Bild), sondern „Begriff“. Nur das, was ich begreife, anfasse, betaste, gewährt Sicherheit, nur darauf kann ich bauen. Der Tastsinn ist der spezifische Raumsinn. Wo Tastung möglich ist, da ist auch Raum, Volumen, Härte, Widerstand, da erfahren wir, daß wir nicht allein auf der Welt sind - und daß wir einander brauchen.

Der Tastsinn ist der eigentliche Sinn der Liebe. Wir lieben nur, was wir angefaßt haben. Kein wirklicher Liebhaber traut dem bloßen Augenschein, und zwar völlig zu Recht. Er will „nachsehen“, was kein optischer, sondern ein taktiler Vorgang ist.

Für keinen anderen Sinn gibt es so viele semantische Möglichkeiten, um den Wahrnehmungsvorgang zu versprachlichen, und jedem Wort entspricht tatsächlich eine jeweilige Spezifik, die Wörter sind keine bloßen Metaphern für den faktisch immer gleichen Vorgang, sondern sie bezeichnen die realen Möglichkeiten des Ertastens.

Der Taster kann „abtasten“, was - vor allem im Liebesspiel - beileibe kein bloßes „ertasten“ ist. Er kann streicheln, schubsen, zwicken, boxen usw., er kann „zärtlich tasten“ oder „brutal tasten“. Solche Differenz leistet das Auge nur sehr ungenügend. Wenn wir sagen „er sah sie zärtlich an“ oder „er sah sie brutal“ an, so ist das vielleicht nicht nur metaphorisch, sondern es gibt im Blick wahrhaftig eine Zärtlichkeit bzw. Brutalität. Aber wie ungewiß sind hier die Nuancen, dagegen wie deftig und völlig eindeutig beim Tastsinn!

Was lernen wir da in Hinblick auf das Baby und die Tübinger Mundpropaganda? Nun, wir sehen das absolute Prä des Tastens vor dem Sehen. Bevor das Baby den Mund zu beobachten beginnt, hat es sich schon eine ganze weite Tastwelt aufgebaut. Und daß der Mund sich wirklich bewegt - das glaubt es erst, nachdem es ihn ausführlich abgetastet hat.


 
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