© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/02 08. März 2002

 
Märkisches Zünglein an der Waage
Zuwanderung: Nach der Entscheidung im Bundestag verlagert sich der Parteienstreit jetzt in den Bundesrat / Spekulationen um Große Koalition in Brandenburg
Paul Rosen

Wer die Debatte des Bundestages vor der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes miterlebt hat, konnte sich einen Vorgeschmack davon verschaffen, was in diesem Lande passiert, wenn das Thema den Bundestagswahlkampf beherrschen sollte. So warf Innenminister Otto Schily (SPD) der CDU/CSU vor, sie betreibe „keine Opposition, sondern Obstruktion“. Fraktionschef Friedrich Merz konterte: „Wir werden den Paradigmenwechsel zu einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft nicht mitmachen.“ Doch in Wirklichkeit geht es um etwas anderes: Die rot-grüne Koalition will versuchen, mit ihrem letzten „Reformprojekt“ in dieser Wahlperiode den Kanzlerkandidaten der Opposition, Edmund Stoiber, in eine Niederlage zu treiben.

Auch nach der Abstimmungsniederlage der CDU/CSU im Bundestag beim Zuwanderungsgesetz bleiben die Fronten unverändert. Die Koalition hatte den Gesetzentwurf in letzter Minute in zahlreichen Punkten geändert, um der Opposition entgegenzukommen. So wurde das Nachzugsalter für Familienangehörige abgesenkt, die Möglichkeit der Zuwanderung nach regionalen Arbeitsmarktinteressen eingeschränkt. Doch schon bei der ersten Durchsicht fanden Experten der Opposition heraus, daß die Änderungen überwiegend kosmetischer Natur waren. Beispiel Senkung der Altersgrenze für Familiennachzug auf zwölf Jahre: In diesem Passus gibt es jetzt so viele Ausnahmetatbestände, daß die Ausnahme zur Regel wird und Familienangehörige von Ausländern unter Berufung auf diese Ausnahmebestimmungen fast unbegrenzt nachziehen könnten. So schlußfolgerte Wolfgang Bosbach, der Innenexperte der CDU/CSU: „Die Union kann nicht zustimmen, weil das Gesetz nicht den Interessen unseres Landes entspricht.“

Doch um die Interessen unseres Landes geht es erst in zweiter Linie. Wer sich die Lage besonders in westdeutschen Großstädten mit zunehmender Ghettobildung anschaut, kann eigentlich nur noch den ursprünglichen Zuwanderungsvorschlag der FDP gut finden. Die Liberalen hatten eine jährlich neu festzulegende Zuwanderungsquote vorgeschlagen, die bei realistischer Lagebetrachtung nur bei null hätte stehen dürfen und müssen. Denn die Folgen eines besonders in Ballungsgebieten überhöhten Ausländeranteils werden nicht nur an den Belastungen der Sozialkassen deutlich, sondern finden auch Eingang in die Pisa-Bildungsstudie: Dort schneiden die in Deutschland lernenden Schüler überwiegend deshalb so schlecht ab, weil der Ausländeranteil in den Klassen so hoch ist. Da Deutsch nicht mehr die allgemein beherrschte Sprache ist, sinkt das Niveau des Unterrichts. Dies hat absehbare Auswirkungen auf die Wirtschaft: Den gut ausgebildeten und verhältnismäßig gut gebildeten Facharbeiter, Rückgrat des westdeutschen Wirtschaftswunders, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Die Folge davon sind weitere Verluste im Vergleich mit anderen Ländern, die diese und andere Probleme nicht kennen.

In erster Linie geht es jedoch beim Streit um die Zuwanderung um die Macht in Berlin und die Frage, wer als nächster Kanzler Deutschland regiert: Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber. Der Amtsinhaber aus Niedersachsen ist angeschlagen. Die Arbeitslosigkeit, die er auf 3,5 Millionen zurückführen wollte, verharrt bei über vier Millionen. Der Wirtschaftsaufschwung, der zwar in aller Munde, aber noch nicht sichtbar ist, wird in Deutschland verhalten ausfallen, weil Gesetzesänderungen der rot-grünen Koalition (630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeitsgesetz und andere) den Arbeitsmarkt haben erstarren lassen. Die Wahnvorstellungen vieler Arbeitgeber, daß Menschen über 45 Jahre zum alten Eisen gehören sollen, werden auch nicht zu einer Einstellungsflut beitragen. Mit Leistungsbilanzen kann Schröder also nicht glänzen.

Eine Niederlage im Bundesrat würde Stoiber beschädigen

Und für den Sieg bei der Bundestagsabstimmung über das Zuwanderungsgesetz kann sich der Kanzler nicht einmal ein Butterbrot kaufen. Entscheidend ist, was im Bundesrat passiert. Dort haben die SPD-Länder nur 31 Stimmen. 35 wären notwendig, um das Zuwanderungsgesetz in Kraft setzen zu können. Schon einmal hatte Schröder in der Länderkammer einen grandiosen Sieg errungen: Bei der Steuerreform köderte er mit finanziellen Versprechungen die Großen Koalitionen aus SPD und CDU (Bremen, Brandenburg und damals noch Berlin), die sich bei den zwischen den großen Parteien strittigen Themen zu enthalten pflegen und setzte die Steuerreform durch. Für Schröder steht fest: Das ist wiederholbar - und zwar mit den Stimmen der brandenburgischen Großen Koalition, angeführt von Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) und Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). Mit einer Niederlage im Bundesrat wäre die Union gespalten, Stoiber hätte eine schwere Schlappe kassiert. Mit dem Image des Verlierers würde der Bayer auch schlechtere Chancen bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt haben, wo es derzeit nach einem phänomenalen Zuwachs für die Christdemokraten aussieht und selbst eine Regierungsbeteiligung der CDU nicht mehr auszuschließen ist. Auch der Start in den Bundestagswahlkampf wäre mißglückt.

Einen ersten Erfolg hat Schröder eigentlich schon erzielt: In der Unionsführung geht das Mißtrauen um. Man traut Schönbohms Treueschwüren nicht, die er in immer kürzeren Abständen abzugeben pflegt. Zu viele erinnern sich noch an frühere Extratouren des damaligen Berliner Innensenators Schönbohm, das Verhalten des später nach Brandenburg gewechselten Ex-Generals bei der Steuerreform ist auch noch nicht vergessen. Gerätselt wird, was Stolpe und Schönbohm wichtiger sein könnte: Der Erhalt ihrer Großen Koalition und ein angenehmes Leben bis zu nächsten Wahl - oder der Vorruhestand. Denn eines ist klar: Stimmt Stolpe im Alleingang dem Zuwanderungsgesetz zu und bleibt Schönbohm bei seiner ablehnenden Linie, muß die brandenburgische CDU die Potsdamer Koalition verlassen. Es darf nicht vergessen werden, daß in der brandenburgischen SPD viele Funktionäre und Mandatsträger für eine Zustimmung zum Zuwanderungsgesetz sind. Sie wären nur zu gerne bereit, die Große Koalition platzen zu lassen und nach Berliner und Schweriner Vorbild eine rot-rote Koalition zu installieren. Für Stolpe stünde der Potsdamer Oberbürgermeister Matthias Platzeck bereits als Nachfolger bereit.

So wie es aussieht, hat Schröder seinen Köder bereits wieder ausgelegt. Alle Änderungen am Zuwanderungsgesetzentwurf hatten in Wirklichkeit nur ein Ziel: Nicht den Wünschen von Stoiber und Merz entgegenzukommen, sondern denen von Stolpe und Schönbohm. Stolpe hatte die Senkung des Nachzugsalters, die Einschränkungen bei der Zuwanderung aus Arbeitsmarktgründen und die Hereinnahme des Ziels der Zuwanderungsbegrenzung in den Gesetzestext gefordert. Außerdem wollte er Einschränkungen bei der sogenannten geschlechtsspezifischen und nichtsstaatlichen Verfolgung als Einwanderungsgrund. In fast allen Bereichen kam ihm die rot-grüne Koalition entgegen.

In der Union kursieren merkwürdige Vorstellungen. Sollte Stolpe am 22. März im Bundesrat die Hand zur Zustimmung seines Landes heben, könnte Schönbohm beim Aufrufen der Nein-Stimmen ebenfalls die Hand erheben. Das brandenburgische Abstimmungsverhalten wäre in diesem Fall nicht eindeutig. Die Stimmen wären ungültig. Die Option ist lächerlich und würde auch das Ende der Großen Koalition in Potsdam bedeuten. So stehen Stolpe und Schönbohm vor der Gretchenfrage der deutschen Nachkriegspolitik, der Entscheidung zwischen Macht und Moral. Gewonnen hat bis dato immer der persönliche Machterhalt.


 
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