© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002

 
„Nun kommt die Flut“
Der Schriftsteller Arno Surminski über die neue Sicht auf die deutsche Vergangenheit, Günter Grass und die Vertreibung aus Ostpreußen
Moritz Schwarz

Herr Surminski, Sie sind einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die sich in ihren Romanen mit der Vertreibung und dem verlorenen Osten Deutschlands auseinandersetzen. Nun hat Günter Grass das Thema entdeckt.

Surminski: „Spät kommt ihr, doch ihr kommt!“

Grass hat es als Versäumnis bezeichnet, sich nicht früher dem Thema gewidmet zu haben.

Surminski: Ich habe mich immer über das allgemeine Desinteresse an diesem wichtigen Thema gewundert.

Hat es Sie überrascht, daß das Thema nun mit einem Mal wieder aktuell geworden ist?

Surminski: Im ersten Moment ja, dann aber fand ich es ganz logisch, so überraschend ist es nicht: Erstens ist der Druck des Ostblocks nicht mehr vorhanden, dem man sich so lange Zeit gebeugt hatte. Zweitens neigen offenbar auch die „alten Helden“ wie Günter Grass dazu, sich schließlich ihrer Heimat und Jugendzeit zuzuwenden, und drittens beschäftigt uns Deutsche die Vergangenheit unterschwellig doch viel stärker, als die meisten sich das eingestehen wollen.

Die Presse spricht vom Tabubruch.

Surminski: Man konnte darüber schreiben, das war nicht verboten, insofern war das Thema nicht tabu.

Aber das Thema an sich galt als anrüchig. Es hatte den Ruf: damit beschäftigten sich nur „Ewiggestrige“.

Surminski: Die Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit war in der Tat sehr zurückhaltend. Es galt wohl als potentiell revanchistisch, wenn nicht gar als nazistisch. Aber nun kommt ein Großer, wie Günter Grass - der dazu noch über jeden Verdacht erhaben ist - und natürlich stellt sich plötzlich in den Augen der Öffentlichkeit alles anders dar.

Woher stammt dieser Verdacht?

Surminski: Das war zum einen eine Reaktion auf das anfängliche Verhalten der Vertriebenenverbände, entsprang aber auch, wie bereits gesagt, der Rücksichtnahme auf den Ostblock.

Die Intelligenz scheute sich nach dem Krieg, Polen, Rußland, etc. für das, was sie getan hatten, zu kritisieren?

Surminski: Ja.

Steckt in der Verneinung der Erinnerung an das eigene Leid nicht auch Selbsthaß?

Surminski: Sicher, die Reaktion der Deutschen auf das eigene Leid hat zweifellos masochistische Züge. Es ist absurd, daß wir uns über das Leid der anderen all die Jahre so auslassen konnten und unser eigenes Leid dagegen unter den Teppich kehrten.

Ist das der Wunsch nach Strafe?

Surminski: Das mag durchaus so sein.

Muß man beim Schreiben über die Vertreibung die Schere im Kopf haben?

Surminski: Ich habe mich schon 1973 gefragt, wie verhindere ich, daß aus meinen Büchern falsche Schlüsse gezogen werden. Ich kam zu dem Ergebnis: Wenn ich die Wahrheit schreibe, kann es nicht schädlich sein. Ich habe auch bewußt, um solchen Vorwürfen zu entgehen, die Schicksale beider Seiten, also der Deutschen genauso wie der Russen oder Juden, gleichwertig nebeneinander gestellt.

Hinterläßt es kein flaues Gefühl, wenn man diese Darstellung nicht aus freien Stücken, sondern aus Sicherheitsgründen wählen muß?

Surminski: Nein, ich habe das aus freier Entscheidung gemacht. Das Nebeneinander von deutschem, russischem, polnischem und jüdischem Leid entsprach ja auch der Realität.

Das Thema Vertreibung hat stets sein Publikum gefunden, zahllose Bücher wurden dazu verkauft und dennoch ...

Surminski: ... war es immer im Abseits. Verantwortlich dafür ist die Literaturkritik, die das Thema „tief gehängt hat“. Das hat viele Schriftsteller entmutigt.

Heute kritisiert die Literaturkritik, die Schriftsteller hätten sich nicht genug mit dem Leid der Deutschen, mit Bombenkrieg und Vertreibung, auseinandergesetzt.

Surminski: Erstens stimmt das nicht, denn es wurden natürlich solche Bücher geschrieben, zweitens ist es absurd, wenn ausgerechnet die Literaturkritik, die - wie gesagt - in erster Linie diesen angeblichen Mangel verursacht hat, jetzt den Mangel beklagt.

Wie verhält es sich mit der Rezeption Ihrer Werke?

Surminski: Sie sind in erstaunlichem Umfang gekauft und gelesen worden, mein Roman „Jokehnen“ etwa 500.000 Mal. Zudem ist er ins Schwedische und Russische übersetzt worden. Dennoch spielte sich das alles „in der Nische“ der Betroffenen ab.

Wie ist nach ihrer Sicht die Reaktion der Polen und der Russen in den ehemals deutschen Gebieten auf die sich womöglich anbahnende neue Entwicklung in Deutschland?

Surminski: In Polen herrscht gegenüber dem Thema eine große Aufgeschlossenheit. Man spricht sogar über das, was den Deutschen angetan wurde.

Ist diese Aufgeschlossenheit größer als die in Deutschland?

Surminski: Nach meinem Eindruck ja, weil Polen da liegt, wo sich alles abgespielt hat.

Sie wurden 1934 in Jäglack / Ostpreußen geboren, 1945 wurden ihre Eltern von den Sowjets verschleppt.

Surminski: Ende Januar 1945 sind wir mit Pferd und Wagen vor den Russen aus Jäglack geflohen, vorbei an ausgebrannten Panzern, zerschossenen Flüchtlingswagen, Leichen in den Straßengräben. Nach etwa 120 Kilometern holte uns die Rote Armee ein. Wir mußten nach Hause zurückkehren, wo meine Eltern schließlich vom NKWD abgeholt wurden. Nahezu alle Männer, auch Alte und Kranke, und die jüngeren Frauen wurden verschleppt. Ich habe meine Eltern nie wiedergesehen.

Wissen Sie, wo sie geblieben sind?

Surminski: Ja, seit einem Jahr. Ende 2000 erhielt ich einen Brief vom Suchdienst des Roten Kreuzes mit den Namen der Lager, in denen sie umgekommen sind. Dank der Öffnung der Archive in Rußland konnten die Daten nach Jahrzehnten ermittelt werden.

War es für Sie ein persönliches Bedürfnis, über das Thema zu schreiben?

Surminski: Ich habe nicht geschrieben, um zu bewältigen, sondern um zu erinnern.

Geht es Ihnen um das Leid der Menschen oder um den Verlust der Heimat?

Surminski: Meine Heimatbindung hängt an Personen. Als ich unser Dorf verließ, war es völlig verwüstet und menschenleer. Die Heimat, die wir verließen, gab es nicht mehr. Das ist etwas anderes, als wenn Menschen aus einem intakten Dorf ins Ungewisse fliehen und dieses ideale Bild für immer mit in die Fremde nehmen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu den Vertriebenenverbänden?

Surminski: Im Großen und Ganzen nicht schlecht, so habe ich zum Beispiel den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen bekommen. Allerdings bin ich auch angefeindet worden, weil ich nicht ganz deren Meinung vertreten habe.

Nämlich?

Surminski: Weil ich nicht alles wiederhaben will. Es geht mir nur darum, die Wahrheit zu schreiben über das, was gewesen ist. Das hat vielen nicht genügt. Ich hatte das Bedürfnis, den vielen Millionen, zumeist unschuldigen Menschen - über deren Schicksal einfach so hinweggegangen wurde - wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, an sie zu erinnern und ihnen eine Stimme zu geben.

Ist es nicht natürlich, daß die Vertriebenen auch politische Ansprüche haben?

Surminski: Über Flucht und Vertreibung die Wahrheit zu schreiben, ist dringend geboten, daraus politische Forderungen abzuleiten, ist töricht. Die Regionen, um die es geht, sind im Begriff, sich in Europa aufzulösen. Warum da noch Diskussionen um nationale Grenzen? Nebenbei bemerkt gehöre ich zu denen, die für eine europäische Region Königsberg eintreten.

Aber ist es nicht wichtiger, Unrecht beim Namen zu nennen, als seinen Frieden zu machen? Zumindest im Falle des durch uns Deutsche während des Zweiten Weltkrieges verübten Unrechtes ist das zu Recht immer gepredigt worden.

Surminski: Ich spreche dieses Unrecht in meinen Büchern ja auch an, aber ich stelle keine Ansprüche.

Wie haben sie auf die Neue Ostpolitik Willy Brandts reagiert?

Surminski: Damals war ich nicht einverstanden.

Aber sie stellte doch den Verzicht von Ansprüchen dar.

Surminski: Für mich hatte es den Charakter einer zu tiefen Verbeugung vor dem kommunistischen Osten. Ich war damals schon der Meinung, die Deutschen hätten das Recht, mit den Siegern des Zweiten Weltkrieges auf gleicher Augenhöhe zu sprechen.

1974 erschien Ihr erster Roman, „Jokehnen“, wie haben die Leser reagiert?

Surminski: Ich erhielt viele Briefe mit dem Tenor: „Endlich hat einer unser Erleben und unser Leiden zur Sprache gebracht!“ Die Leute schrieben mir, daß sie nicht verstünden, wieso wir dem Schicksal der Afrikaner oder der Indianer soviel Aufmerksamkeit widmeten, während das Leiden der eigenen Leute keinen rühre.

Ein Trauma?

Surminski: Durchaus, ein Gefühl von Vergessenwerden: „Unser Leiden nimmt niemand wahr.“

Hat Grass mit „Im Krebsgang“ eine Wende eingeleitet, oder wird nach der Aufregung um das Buch wieder eine bleierne Zeit beginnen?

Surminski: Ich denke, Grass hat alle Schranken durchbrochen. Und nun kommt die Flut.

Die Frage ist, ob es vielleicht heißt: „Grass durfte das und er darf das auch wieder, aber deshalb darf das Lieschen Müller noch lange nicht“?

Surminski: Ich glaube, daß sich nun auch andere des Themas annehmen werden. Es ist ja auch ein großer Stoff für die Literatur.

Ostpreußen ist durch den Verlust für die Deutschen zu einem heimlichen Traumland geworden.

Surminski: Es ist erstaunlich, welcher Nimbus Ostpreußen heute umgibt. Woher das kommt, ist mir nicht recht klar - an der Landschaft, wie meist kolportiert wird, kann es nicht liegen. Denn bis auf die natürlich einmalige Kurische Nehrung ist die Landschaft dort nicht soviel anders, als etwa in Mecklenburg.

Ostpreußen ist das exakte Gegenteil der hektischen, satten, materialistischen Bundesrepublik: still, melancholisch, mythisch.

Surminski: Ostpreußen war immer schon exotisch. Es entstand als Ordensstaat außerhalb des Reiches und war lange Zeit und seit dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder eine Insel. Ich glaube aber, daß Ostpreußen vor allem durch den Krieg selbst eine besondere Aura bekommen hat. Millionen Soldaten passierten Ostpreußen auf dem Weg zur Front und zurück. Es war stets das erste Stückchen Deutschland, daß sie auf Heimaturlaub erreichten, ab hier waren sie zu Hause.

 

Arno Surminski, 67, Schriftsteller und Journalist, widmet sich bereits seit 1974 („Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland“, Ullstein Verlag) in seinen Romanen und Erzählungen der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten des Reiches - mit großem Publikumserfolg, aber von der Kritik weitgehend unbeachtet.

 

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