© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002

 
„Die nationale Identität erhalten“
Christian Hillgruber über das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, Edmund Stoiber und das Versagen der Union
Moritz Schwarz

Herr Professor Hillgruber, der Innenausschuß des Bundestages hat Sie kürzlich als Sachverständigen zu einer Anhörung zum rot-grünen Zuwanderungsgesetz geladen. Welche Kritik haben Sie an Schilys Gesetzentwurf vorgebracht?

Hillgruber: In erster Linie kritisiere ich, daß dieses Zuwanderungsgesetz seinem eigenen Anspruch - „Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“, wie sein Titel lautet - nicht gerecht wird. Zum einen aufgrund der geplanten, weder vertretbaren noch sachlich gebotenen Ausweitung der Arbeitsmigration, zum anderen aufgrund der Ausweitung von humanitären Bleiberechten und des allzu großzügigen Familiennachzuges.

Das heißt, der Begriff „Begrenzung“ im Titel des Gesetzentwurfes ist reines Blendwerk?

Hillgruber: Ganz und gar. Und überdies gilt es zu bedenken, daß sich all diese Regelungen nur auf Angehörige von Drittstaaten beziehen. Einwanderer aus anderen Mitgliedstaaten der EU haben sowieso das unentziehbare Recht, sich hier jederzeit anzusiedeln.

Die Befürworter der Zuwanderung verweisen immer wieder gerne auf das Europarecht, das angeblich eine liberalere Zuwanderungsregelung nahelegt.

Hillgruber: Nach dem Vertrag von Amsterdam wird auch die Einwanderungspolitik der EU-Mitgliedsländer „vergemeinschaftet“ werden. Allerdings liegen solche gemeinschaftlichen Regelungen noch nicht vor; sie sind erst in Vorbereitung. Vor allem aber gilt hier laut EG-Vertrag das Einstimmigkeits-Prinzip: Die Bundesrepublik Deutschland könnte also eine restriktivere Haltung in Sachen Zuwanderung durchsetzen, wenn sie nur wollte. Sie steht keineswegs unter einem rechtlichen Zwang, Kompromisse einzugehen.

Auch das Völkerrecht wird gerne als übergeordnetes Argument für die Ausweitung der Zuwanderung benutzt.

Hillgruber: Das gilt vor allem für die humanitären Bleiberechte, etwa nach der Genfer Flüchtlingskonvention, deren Reichweite zum Teil einfach deutlich überzeichnet wird. Tatsächlich aber eröffnen Völker- und Europarecht weite Handlungsspielräume für eine Begrenzung der Zuwanderung. Sie müssen nur genutzt werden.

Finden sich auch im rot-grünen Gesetzentwurf solche Überzeichnungen etwa der Genfer Flüchtlingskonvention?

Hillgruber: Ja, etwa wenn es um nicht-staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung geht. Zwar hat auch ein Vertreter des Hohen Kommissars für Flüchtlingsfragen der Uno (UNHCR) in der Anhörung die Position vertreten, die Genfer Flüchtlingskonvention gebiete einen entsprechenden Schutz, aber die Bundesrepublik ist nicht verpflichtet, sich diese nicht überzeugende Ansicht zu eigen zu machen. Sicher ist die Arbeit des Hohen Kommissars verdienstvoll, aber letztlich handelt es sich bei ihm natürlich um einen Lobbyisten in Sachen Menschenrechte. Von denen übrigens mehr als genug in der Anhörung zu Wort gekommen sind: von amnesty international über die Kirchen - die sich hier übrigens in zum Teil fragwürdiger Weise engagieren - bis hin zu den in Deutschland quasi flächendeckend existierenden Asyl-Arbeitskreisen.

Sie haben auch daran erinnert, daß die Verfassung eine Begrenzung der Zuwanderung auf ein integrationsfähiges Maß fordert. Wo steht das im Grundgesetz?

Hillgruber: Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf den Standpunkt zurückgezogen, das Grundgesetz sei ausländerpolitisch „neutral“. Es erlaube also sowohl liberalere als auch restriktivere Zuwanderungsregelungen, das sei in die Verantwortung des Gesetzgebers gestellt. Ich meine allerdings schon, daß der normative Befund, daß sich die Bundesrepublik Deutschland als Staat des deutschen Volkes begreift, wie sich unter anderem aus der Präambel, dem Schlußartikel des Grundgesetzes sowie aus dem Amtseid ergibt, den die Mitglieder der Bundesregierung schwören, auch insoweit relevant ist. Daraus folgt nämlich, daß es Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist, dem Nutzen des deutschen Volkes zu dienen und Schaden von ihm abzuwenden. Und das beinhaltet durchaus auch, bei der Gestaltung von Zuwanderung darauf zu achten, daß die nationale Identität des deutschen Staatsvolkes im Kern gewahrt bleibt.

Ist demzufolge die Politik der Koalition verfassungsfeindlich?

Hillgruber: Ich halte sie jedenfalls für verfassungsrechtlich bedenklich. Immerhin soll Zuwanderung über das integrationsfähige Maß hinaus betrieben werden. So wie man früher die Belastbarkeit der Wirtschaft getestet hat, so testet man heute die integrationspolitische Belastbarkeit des deutschen Volkes. Ich glaube zwar nicht, daß der Bundesinnenminister das will, aber es gibt eben noch andere Kräfte in der Koalition.

Also sind es nicht die Kritiker, sondern die Verfechter dieser Zuwanderungsregelung, die sich am Rande der Verfassung bewegen?

Hillgruber: So ist es, und zudem gefährden sie durch die Zuwanderung die notwendige Integration. Denn je größer die Gruppe der Zuwanderer ist, umso weniger ist sie darauf angewiesen, sich zu integrieren, sondern neigt dazu, eine Parallelgesellschaft aufzubauen. Gerade das Erfordernis der Integration bedingt also eine Begrenzung der Zuwanderung.

Aber nicht nur die Zuwanderung bedroht die Integration, sondern ebenso das im Gesetzentwurf zu niedrig angesetzte Integrationsniveau.

Hillgruber: Es reicht nicht aus, zu verlangen, sich lediglich radebrechend auf Deutsch verständigen zu können. Solch ein Minimum an Sprachkenntnis sichert lediglich das soziale Überleben, erlaubt aber noch keineswegs die Integration in unsere Gesellschaft. Außerdem lehnt es der rot-grüne Gesetzentwurf ab, aus einem Mißlingen der Integration Konsequenzen zu ziehen, die darin bestehen müßten, in einem solchen Fall keinen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland zu gestatten. Diese Inkonsequenz ist inzwischen leider typisch für den Gesetzgeber: Er ist pädagogisch ambitioniert und sieht für den Notfall ein Beratungsgespräch vor. Es handelt sich um den Typus naiver, moderner „Aufklärungsphilosophie“, die nun den nach-68er-Gesetzgeber erreicht hat.

Sie stellen fest, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung dazu neigt, „das vertretbare Höchstmaß an Arbeitsmigration an die Verwaltung zu delegieren“. Hat die Koalition Angst vor den Konsequenzen ihrer eigenen Politik und gibt das Problem daher an die Verwaltung ab?

Hillgruber: Man könnte es meinen, doch es steckt etwas anderes dahinter: Der Gesetzentwurf sieht vor, im sogenannten Auswahlverfahren eine gewisse Menge von qualifizierten Arbeitskräften quasi auf Vorrat ins Land zu holen. Die Höchstzahl der auf diese Weise einwandernden Fachkräfte soll vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Einvernehmen mit der Bundesanstalt für Arbeit festgelegt werden. Statt jetzt die Zahlen zu nennen, werden sie später von diesen Ämtern unauffällig und demokratisch unkontrolliert reguliert. Angesichts der dramatisch hohen Zahl von Arbeitslosen in Deutschland will man die Katze nicht aus dem Sack lassen und nicht eingestehen, in welchem Umfang man hier Zuwanderung zwecks Kompensation der negativen demographischen Entwicklung zulassen will. Das aber ist nach der sogenannten Wesentlichkeits-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht zulässig: Denn eine für unser aller Zukunft so zentrale Schicksalsfrage muß vom unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament selbst entschieden werden.

Wie haben die Parlamentarier des Innenausschusses auf solch schwere Kritik reagiert?

Hillgruber: Natürlich wurde mir unterstellt, ich würde alle Ausländer pauschal als integrationsunwillig betrachten. Besonders ein Abgeordneter der SPD hat mich schwer gescholten und sich „tief betroffen“ gezeigt. Daß es schlicht und einfach um die Übernahme von Verantwortung geht, die darin besteht, Vorsorge zu treffen für den Fall, daß es der Realität nicht belieben sollte, sich an die integrationspolitischen Wunschvorstellungen der rot-grünen Bundesregierung zu halten, wurde leider nicht begriffen.

Sie haben davon gesprochen, daß sich die Kirchen in puncto Zuwanderung „in zum Teil fragwürdiger Weise engagieren“. Was haben Sie damit gemeint?

Hillgruber: Bedauerlicherweise neigten die Vertreter der Kirchen in der Anhörung dazu, die Dinge hinsichtlich des Zusammenhangs von Integration und Daueraufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland geradezu auf den Kopf zu stellen, indem sie - von den Grünen sekundiert - die Ansicht vertraten, Integration könne nur gelingen, wenn den Einwanderern von vornherein eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, eine unbeschränkte Arbeitsgenehmigung und das Recht auf Familiennachzug gewährt würde. Was Rechtsfolge gelungener Integration sein sollte, wird damit zu deren Voraussetzung erklärt. So läßt sich Zuwanderung nicht steuern, geschweige denn begrenzen.

Woran liegt es, daß eine psychologische Lehre, die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik inzwischen sogar von der Linken akzeptiert ist - nämlich, daß nur klare Anforderungen zu entsprechender Leistung führen - in der Zuwanderungsfrage den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit nach sich zieht?

Hillgruber: Das zeigt eben sehr deutlich, daß - obwohl in einigen Fragen, wie etwa unserer Wirtschafts- und Sozialordnung, inzwischen ein großer Grad an Einigkeit in der Politik herrscht - die Kategorien von links und rechts, anders als etwa der bayerische Ministerpräsident und nunmehrige Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, meint, keineswegs überholt sind. Selbst wenn es die Union nicht will, es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als diese Auseinandersetzung anzunehmen und sich nicht zurückzuziehen. Aber die Stimmen, die man zu diesem Thema aus der Union vernimmt, sind ja sehr disparat, was die Orientierung für die Wählerschaft nicht gerade erleichtert.

Wir brauchen also eine mit Selbstbewußtsein vertretene Leitkultur?

Hillgruber: Natürlich, denn Integration ist eben etwas völlig anderes als die multikulturelle Gesellschaft. Leider werden beide Begriffe gerne synonym verwendet - auch mit dem Hintergedanken, der Union keine Deutungsherrschaft über einen von ihr selbst geprägten Begriff zu gestatten.

Also die Union sprachlos zu machen.

Hillgruber: In gewisser Weise.

Daher auch die beinahe haßerfüllten Angriffe gegen den Begriff „Leitkultur“?

Hillgruber: Es ging darum, der CDU/ CSU keinen Konkurrenzbegriff zur multikulturellen Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei bedeutet Leitkultur - also das Prinzip der Integration - ja nicht Assimilation, also das Aufgeben jeder kulturellen Eigenständigkeit, sondern lediglich die Eingliederung in eine Gesellschaft, in der man dauerhaft leben will.

Was allerdings auch den Verzicht auf gewisse kulturelle Eigenheiten bedeutet.

Hillgruber: Ja, aber nicht die Aufgabe der kulturellen Eigenheit an sich. Eine solche Forderung wäre rechtlich auch gar nicht durchsetzbar, weil die Grundrechte des Grundgesetzes auch die kulturelle Autonomie des Einzelnen in den durch das Gemeinwohl gesetzten Schranken schützen. Allerdings hat auch die Liberalität unserer Verfassungsordnung natürlich ihre Grenzen.

Wenn die Union noch nicht einmal in der Lage ist, sich zu ihrem eigenen Begriff „Leitkultur“ zu bekennen, wie will sie dann die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner im Wahlkampf bestehen?

Hillgruber: Das ist eine berechtigte Frage, die ich allerdings nicht beantworten kann. Ich habe angesichts der intellektuellen Auszehrung der Union selbst gewisse Zweifel, ob sie die Auseinandersetzung im Wahlkampf bestehen wird.

Die Koalition fürchtet also zu Unrecht, die Opposition könnte das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema machen. Vielmehr wird die Union aus eigenem Interesse den Kompromiß mit der Regierung schon vor der Wahl suchen?

Hillgruber: Das ist meine Vermutung. Edmund Stoiber will sich, wie die ersten Interviews offenbart haben, in der Mitte positionieren und tunlichst vermeiden, mit bestimmten Etiketten versehen zu werden. Es wird also nicht in seinem Interesse sein, die Zuwanderung zum großen Thema zu machen. Zudem besteht für die Union die Gefahr, im Bundesrat erneut - wie schon bei der Steuerreform - vorgeführt zu werden.

Das heißt, die Bürger werden bei der Bundestagswahl im Herbst zwar die Wahl zwischen Schröder und Stoiber, zwischen Ökosteuer und deren eventueller Abschaffung, etc. haben, nicht aber in den entscheidenden, langfristig unser Gemeinwesen verändernden Fragen.

Hillgruber: So ist es. Edmund Stoiber hat bereits signalisiert, in allen staats- und gesellschaftspolitisch bedeutsamen Bereichen auf eine eigene Gestaltung zu verzichten und den status quo zu akzeptieren, also seinen Frieden mit den gesellschaftsverändernden rot-grünen Reformprojekten zu machen. Damit hat er schon im vorhinein alle Hoffnungen enttäuscht, noch ehe er - nach einem eventuellen Wahlsieg - in einer bürgerlichen Koalition mit Rücksicht auf die FDP diesen Rückzieher vielleicht hätte vollziehen müssen. Gleichgeschlechtliche Partnerschaft, das rot-grüne Staatsbürgerschaftsrecht, etc.: Hier ist von der Union kein Gegenkonzept zu erwarten - dessen muß man sich bewußt sein. Insbesondere in puncto Lebenspartnerschaftsgesetz ist die Situation geradezu grotesk: Denn noch läuft das Hauptsacheverfahren in Karlsruhe, mit dem die bayerische Staatsregierung die Regelung der rot-grünen Bundesregierung juristisch bekämpft. Gleichzeitig aber verkündet der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Union, daß er das Gesetz im Falle eines Wahlsieges gar nicht aufheben lassen will.

Strategie der Union ist es, den Bürger mit Klagen vor dem Verfassungsgericht oder mit öffentlichkeitswirksamen Unterschriftenaktionen über ihre wahre Haltung - wenn es also zum Entscheid der Sachfragen kommt - irrezuführen. Täuscht die Union die Wähler bewußt oder hat sie völlig den strategischen Überblick verloren?

Hillgruber: Von einer bewußten Täuschung gehe ich nicht aus, aber Teile der Union huldigen mittlerweile in hohem Maße der political correctness. Es handelt sich also wohl um keine böse Absicht, sondern eher um eine erhebliche kulturelle und intellektuelle Schwäche. Wie weit die Verwirrung der Geister mittlerweile geht, demonstriert noch ein anderer merkwürdiger Befund: Seltsamerweise sind wir im Inneren bereit, unsere eigene Kultur - sogar unsere Rechtskultur - zu opfern, weil wir meinen, sie für andere Kulturen öffnen zu müssen. Andererseits aber erheben wir den Anspruch, mit einer Politik der sogenannten humanitären Intervention anderen Ländern und anderen Kulturkreisen unsere Werte aufzuzwingen. Ich halte das für eine Verdrehung der „natürlichen“ Verhältnisse. Ein selbstbewußteres Verteidigen der eigenen Wertordnung und mehr Respekt vor anderen Kulturen in den von diesen geprägten Ländern wäre angebracht.

 

Prof. Dr. Christian Hillgruber geboren 1963 in Darmstadt. Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen. Nach einer Assistenz an der Universität Köln war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. Seit 1998 lehrt er in Erlangen. Als Sachverständiger auf Einladung des Innenauschusses des Deutschen Bundestages formulierte er eine Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Zuwanderung.

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