© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/02 01. März 2002


Vergangenheitsbewältigung
Naumann und der Schlußstrich
Dieter Stein

Wie sich die Zeiten ändern! „Vergangenheitsbewältigung“ galt bis vor kurzem als eine große Errungenschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die wachsende Zahl von Gedenkveranstaltungen, sowie immer neue Mahnmäler und Museen machen die Vergangenheit Deutschlands - zwischen 1933 und 1945 - gegenwärtig wie in keinem anderen Land dieser Welt. Wenn man überhaupt auf etwas „Deutsches“ stolz sein durfte in diesem Land, dann auf diese fast neurotische „Erinnerungskultur“.

Nun ist plötzlich alles ganz anders. In der Wochenzeitung Die Zeit forderte kein geringerer als Kulturstaatsminister a. D. Michael Naumann „mehr Gegenwart“. In Unruhe versetzt wurde er durch die aktuelle geschichtspolitische Debatte, die Günter Grass mit seiner Novelle über die Tragödie der „Gustloff“ auslöste, und die nun die gewohnten Trampelpfade verläßt. Warum auf einmal Schluß mit der Vergangenheit?

Es ist ein eigentümliches Plädoyer für einen Schlußstrich in Deutschland, das nicht zufällig in einem Moment kommt, als erstmals in einer breiten Öffentlichkeit auch über deutsche Opfer im Zusammenhang mit Vertreibung und Bombenkrieg gesprochen werden kann.

Immerhin räumt Naumann ein, daß der Historikerstreit 1986, in dessen Folge der Berliner Historiker Ernst Nolte zur Unperson stilisiert wurde, den „Tonfall“ eines „intellektuellen Bürgerkrieges“ trug. Nicht widersprechen kann man Naumann auch, wenn er feststellt, Geschichtsinterpretation sei „hierzulande nicht selten ein Fest der Rechthaberei“.

Gerade deshalb ist es aber geschichtslos, sich zu wünschen, die Deutschen verabschiedeten sich von der Geschichte. Es ist weltfremd, wenn Naumann in der in dieser Hinsicht umstrittenen Zeit zur Erkenntnis kommt, „kein europäischer Nachbar quält seine Sprache mit so seltsamen Begriffen wie ’Vergangenheitsbewältigung‘ und ’Erinnerungskultur‘“. Naumann hat nicht verstanden, daß die politische Klasse in Deutschland die Vergangenheitsbewältigung bewußt zur Staatsräson erhoben hat.

Wenn Naumann beklagt, die Deutschen seien „so unpolitisch wie selten zuvor“, so hat dies auch etwas damit zu tun, daß deutsche Geschichte in der öffentlichen Betrachtung als etwas Finales deklariert wurde. Bis zum Jahr 1989 hatte deutsche Geschichte in Auschwitz zu münden. Seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung von 1990 geht die deutsche Geschichte jedoch wider Erwarten weiter!

Um politisch zu denken, müssen wir wissen, woher wir kommen. Nur wenn wir eine Vorstellung darüber haben, warum so etwas wie ein deutsches kulturelles und staatliches Subjekt in die Geschichte eingetreten ist, können wir sagen, „wie es weitergehen soll“. Naumann wüßte dann zum Beispiel auch besser, daß in Deutschland „das Nationale“ sehr wohl aus der Verfassung schöpft. Unsere Verfassung stützt sich auf das deutsche Volk und ist Ergebnis einer großartigen Verfassungstradition, auf die sich Nationalbewußtsein mit Recht gründen kann. Was Naumann als „deutsche Nabelschau“ verwirft, hat eben erst begonnen.


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