© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002


Ausstellung: Hundert Jahre Lebensreform in Darmstadt
Odol und Deutscher Dom
Claus-M. Wolfschlag

Eine Ausstellung von außerordentlicher Qualität, die das Institut Mathildenhöhe in Darmstadt zusammengetragen hat. Erstmalig für Deutschland wird das große Protest- und Aufbruchsszenario um 1900, das sich unter dem Schlagwort „Lebensreform“ versammelte, in allen Strömungen und Verästelungen umfassend dargestellt. Fast erschlagen wird der Besucher durch die Fülle der Exponate aus den Bereichen Malerei, Plastik, Fotografie, Literatur, Pressewesen. Bis zu Gegenständen des alltäglichen Lebens, zu Kleidung, Medizin oder Wohnutensilien, reicht die überaus spannende Präsentation.

Zu sehen sind unter anderem Gemälde und Exponate berühmter Bildhauer. Die formalistische Heimatkunst von Albin Egger-Lienz steht neben martialischen Monumentalplastiken von Johann Michael Bossard; gefolgt von den sensiblen Farbzeichnungen Rudolf Steiners. Zahlreiche Originalfotos liefern Einblick in die Anfänge der FKK-Bewegung, eine komplette Kluft mit Klampfe in die Lebenswelt der Wandervögel. Zeitschriften jener Tage, wie „Upland“, „Die Tat“, „Der Volkserzieher“ oder die „Deutsche Volksstimme“ liegen in den Vitrinen aus.

Gegliedert ist die Ausstellung dabei anhand geistiger Denkkategorien der damaligen Reformer. Verschiedene Säle beschäftigen sich jeweils mit den Themen Nietzsche, Geist, Seele, Natur, Körper, Leben und Lebenspraxis.

Der Spielraum der Ansätze jener Tage reichte von der rein künstlerisch-intellektuellen Beschäftigung mit kosmischen Phänomenen, aus denen man eine spirituell-abstrakte Malerei ableitete, über Landkommunen, wie am „Monte Verita“, bis zur Wohnweltgestaltung durch praktische Möbel im schlichten Jugendstil. Die Sexualreformbestrebungen richteten sich gegen die lieblose Vernunftehe jener Jahre. Reformpädagogische Spiele bemühten sich um die ganzheitliche Werteerziehung der Kinder.

Aus verschiedenen geistigen Wurzeln heraus wurde um 1900 der Angriff auf die schädlichen Auswirkungen der technischen Moderne und der industrialisierten Massengesellschaft gestartet. Die Wiederaneignung des Lebens in Harmonie mit der idealisierten Natur wurde gegen die zerstörerischen Zivilisationserscheinungen gesetzt. Den der Moderne innewohnenden Tendenzen der Entfremdung und Verkünstlichung des Lebens hoffte man mit der Rückkehr zur Natürlichkeit, zu Licht, Luft, Sonne und bisweilen auch zur Glaubenswelt der germanischen Urahnen entgegentreten zu können.

Anarchistisch ausgerichtete Gurus, proletarische Wanderjugend und völkische Landkommunarden bildeten ein lebhaftes Kommunikations- und Experimentierfeld, in dem viele der theoretisch begründeten Positionen auch in der Praxis ausgetestet wurden. In diesem großen Feld entstanden auch, in den meisten Fällen leider noch nicht realisierte, Architekturphantasien. Die Ausarbeitung jener Pläne reichte von der reinen Aquarellzeichnung, wie Wenzel Habliks „Kristallschloß“ von 1903 bis zum detaillierten Modellbau von Fidus monumentalem „Tempel der Erde“, den man auch in Darmstadt bewundern kann. Für Interessierte, die es möglichenfalls nicht nach Darmstadt schaffen, besteht die Möglichkeit, beim Institut Mathildenhöhe den umfangreichen Ausstellungskatalog zu erwerben. Insgesamt 46 Euro (bei Versandbestellung 66,50 Euro) kosten die beiden dicken Bände mit je über 600 Seiten. Band 1 beinhaltet 111 Aufsätze diverser Wissenschaftler zu den verschiedensten Aspekten der Lebensreform, beispielsweise über Bismarcktürme, die frühe Frauenbewegung, die Obstbaukolonie „Eden“, den George-Kreis oder Ludwig Fahrenkrog mit seiner „Germanischen Glaubens-Gemeinschaft“, deren projektierter Bau eines gigantischen „Deutschen Doms“ bei Witzenhausen nur aufgrund interner Streitigkeiten und sektiererischer Abspaltungen scheiterte. In Band 2 können sämtliche Exponate der Ausstellung in etwa 800 hochwertigen Farbabbildungen bestaunt werden. Die Bände zeichnen sich durch die Dichte in den ästhetischen Bilddarreichungen und durch ihr hohes Niveau in den Beiträgen aus. Stets ist das Bemühen spürbar, sachlich den historischen Phänomenen gerecht zu werden. Nur kleine, dem Zeitgeist geopferte Patzer trüben das großartige Gesamtbild minimal. Anke Kepler verbreitet in ihrem Aufsatz über die „Heimatkunst“ einige Ressentiments gegen sich positiv deutsch verstehende Malerei-Ansätze, denen sie „Provinzialität“ sowie - reichlich weit hergeholt - totalitäre und antisemitische Tendenzen unterstellt.

Die „Lebensreform“, das hält auch der beachtliche Katalog fest, besitzt noch weiterhin große Aktualität. Schon frühzeitig wandte man sich - um nur ein Beispiel zu nennen - in Lebensreformer-Kreisen gegen die „Talmi-Kultur“, deren Wesen die Überschwemmung der Märkte mit billigen Massenartikeln darstellte. Heute, 100 Jahre später, boomen die Kitsch- und Billigartikelläden wie nie zuvor. Immer mehr Reklameschilder „ziehren“ die jährlich stärker zubetonierte und zersiedelte Landschaft. Flachdachwohnburgen werden langsam wieder als städtebauliches Leitbild entdeckt. Es hat sich nichts geändert seit damals. Die industrialisierte Moderne ist statt dessen in einem Ausmaß vorangeschritten, wie es sich die Denker von 1900 noch gar nicht in dieser Konsequenz vorstellen konnten. Gleichsam ist die „Lebensreform“ nicht zur Gänze gescheitert. Viele Utensilien unseres Alltagsgebrauchs entsprangen den für uns bisweilen etwas versponnen wirkenden lebensreformerischen Ansätzen, ohne daß wir uns heute noch dessen bewußt sind. Das morgendliche Odol-Mundwasser entstammt jener Zeit, wie die hygienische Funktions-Küche. Unsere Turnschuhe können als späte Erben des Kampfes von Paul Schultze-Naumburg für die Befreiung der Füße durch gesundes Schuhwerk bewertet werden. Aus dem korsettfreien Reformkleid, um das sich damals der Streit „Wolle oder Baumwolle“ entspann, ist nach vielen formalen Veränderungen im Grundsätzlichen unsere auf Bequemlichkeit ausgerichtete Freizeitmode geworden. Das in der „Lebensreform“ entwickelte menschliche Ideal gesunder jugendlicher Schönheit im schlanken, sportlichen (und zumeist nackten) Körper lebt fort in unserer Sport-Kultur mit Gymnastikkursen und Fitneßcentern. Die fesselnde Ausstellung „Die Lebensreform“ wird jedenfalls dazu beitragen, das Bewußtsein einer notwendigen Reform unserer Lebenswelt wieder verstärkt in die Öffentlichkeit zu tragen.

 

Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, bis 24. Februar im Institut Mathildenhöhe Darmstadt, Ausstellungsgebäude Sabaisplatz 1, jeweils von 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr und samstags bis 22 Uhr, geöffnet. Der Katalog ist erhältlich unter Tel. 0 61 51 / 13 27 78.


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