© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/02 22. Februar 2002

 
Würde im Unvermeidlichen
Tom Tykwers Berlinale-Beitrag „Heaven“ vermittelt ein Gefühl von Strenge, Kälte und Schönheit
Götz Kubitschek

Der Film „Lola rennt“ hat den jungen deutschen Regisseur Tom Tykwer (36) berühmt gemacht. Nun ist die diesjährige Berlinale mit seinem neuesten Werk „Heaven“ eröffnet worden. Es ist schwierig, genau zu benennen, worin sich „Heaven“ von typischen Hollywood-Produktionen zu ähnlichen Themen unterscheidet. Vielleicht ist es dies: Gegen ein hartes Schicksal wird nicht aufbegehrt, nicht mit Geschwätzigkeit, nicht mit Schwächeanfällen, nicht mit der Bitte um Erbarmen. Es bleiben: Rollenbewußtsein und formelhafter Stil.

Turin. Die Englischlehrerin Philippa (Cate Blanchett) legt eine Zeitbombe im Vorzimmer eines Büros ab, in dem der Kopf eines Drogenkartells getarnt als rechtschaffener Geschäftsmann arbeitet. Sie führt diese Tat aus, weil sie auf den Schulhöfen und in ihrer eigenen Familie viel von dem Leid gesehen hat, das die Drogen anrichten. Anzeigen bei der örtlichen Polizei sind ungehört geblieben. Doch der Anschlag mißglückt, weil eine Putzfrau den Papierkorb mit der Bombe in ihren Wagen entleert und einen Aufzug besteigt, in dem bereits ein Vater und seine beiden Töchter sind: Vier Tote, das eigentliche Opfer bleibt am Leben.

Philippa wird verhaftet, verhört, vernimmt ungläubig das Scheitern ihrer Tat, bricht zusammen. Gleichzeitig wächst in ihr der Verdacht, daß die Polizei selbst in das Kartell verwickelt sein könnte, denn Aktennotizen zu ihren Anzeigen und Eingaben sind nicht vorhanden. Der junge Polizist Filippo (Giovanni Ribisi) glaubt ihren Ausführungen in einer Mischung aus Verliebtheit und Rechtsempfinden. Er gesteht Philippa seine Liebe, und ein völlig reduzierter Dialog klärt weitere Entwicklungsmöglichkeiten: Philippa möchte ihr Opfer in einem zweiten Versuch töten und danach die Verantwortung für ihren vierfachen Mord übernehmen.

Von hier an stört der Film gängige Verhaltens- und Denkkategorien, mithin auch Erwartungshaltungen des Zuschauers, der an bestimmte ausladende, geschwätzige Erzählweisen gewöhnt ist. Filippo interpretiert nicht an der zukunftslosen Zukunftsskizze Philippas herum: Er verhilft ihr zum Mord am Dealer und zu einer zwei Tage währenden Flucht in die Toskana, in der Philippa durch die mythische Landschaft und den Mythos der Liebe aus ihrer völligen inneren Zerstörung befreit wird. Kein Gespräch über mildernde Umstände oder Auswege stört die Schönheit der beiden, die Schuld des vierfachen Mords wird angenommen, sie reduziert die Wahlfreiheit auf ein paar wenige Möglichkeiten, ein Abweichen davon wäre Verrat an sich selbst.

Filippo und Philippa entscheiden sich für ein Rollenspiel, bilderprägend: Jeans, weiße Hemden und kahlrasierte Köpfe unterstreichen, daß nunmehr Gestalten handeln. Der Vater Filippos (Remo Girone) kann mit beiden ein kurzes Gespräch führen, läßt jeden hemdsärmeligen Pragmatismus beiseite, begreift seine Rolle, die ihm durch die Unnahbarkeit der beiden Gezeichneten vorgegeben wird. Abends dann im Stallgebäude auf dem Gehöft einer Freundin reicht ein Satz Philippas: „Sie werden kommen.“

Die Flucht wird nicht ins Würdelose hinein verlängert, vielmehr entziehen sich beide für die erste und letzte Nacht in den mythischen Raum der Landschaft, lieben sich, ein Schattenriß gegen das Restlicht, weit entfernt aufgenommen, nie voyeuristisch.

Was bleibt? Ein starkes Gefühl von Strenge, Kälte, Schönheit und Klarheit, Rollenbewußtsein in der Unfreiheit, Würde im Unvermeidlichen, amor fati. Nichts Verworrenes und kein Gequassel. So kann der neue deutsche Film aussehen, dessen Förderung sich die Berlinale unter ihrem neuen Chef Dieter Kosslick vorgenommen hat. Für „Heaven“ hat es trotzdem nicht zu einem Preis gereicht, der Film ging leer aus. Mit einem Silbernen Bären sowie dem Preis der Gilde der deutschen Filmkunsttheater wurde ein anderer deutscher Wettbewerbsbeitrag ausgezeichnet, der Film „Halbe Treppe“ von Andreas Dresen. Der aus Gera stammende Regisseur ist auch erst 38 Jahre jung.


 
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