© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/02 15. Februar 2002

 
Neue Technologien: Zur Einführung
Davon verstehen Sie ja gar nichts ...
Angelika Willig

Ist es möglich, das Thema Genetik für mein ganzes weiteres Leben zu boykottieren?“ Diese Frage müssen sich Leser inzwischen beinahe jeden Tag stellen, wenn sie die Zeitung aufschlagen und seitenweise Stoff geboten bekommen, der vor fünf Jahren noch völlig abseitig gewesen wäre.

Mit Dolly fing es an - obwohl die Fachleute darauf bestehen, daß Klonen nicht unter Gentechnik fällt. Es wird nur identisch reproduziert. Da ein Schaf eh aussieht wie das andere, geriet diese Leistung schnell in Vergessenheit. Dann kam Frank Schirrmacher und füllte sein Feuilleton mit einer Kette von chemischen Formeln. Das Human Genom Project hatte die Abfolge der vier Bestandteile unserer Erbinformation entschlüsselt. Wenn da wenigstens herausgekommen wäre, ob der Mensch nun von Natur aus gut oder von Natur aus böse ist, dann hätten wir es uns im Feuilleton noch gefallen lassen. Aber heraus kam bei dem ganzen Aufwand vorläufig weiter nichts.

Trotzdem sickerten nun die Begriffe Genom, DNS und Klonen in die Medien ein wie Agenten in ein feindliches Ministerium. Ohne daß es jemals erklärt worden wäre, wurden von irgendeinem Zeitpunkt an rudimentäre biochemische Kenntnisse für die Lektüre einer gehobenen Tageszeitung vorausgesetzt. Das ist ärgerlich. Aber ärgern allein nützt nichts, denken wir an den Euro. Bei den Stammzellen ist es dann so weit. Nicht nur im Bundestag, auch im Familien- und Freundeskreis gilt es die Entscheidung: dafür oder dagegen?

Wie sich der Bundestag entschieden hat, ist noch unklar, obwohl die Abstimmung schon zwei Wochen zurückliegt. Konservative und Kirchen behaupten, daß die Entscheidung pro Stammzellen lautet, und sind darüber entsetzt, Forscher und Fortschrittsgläubige sind enttäuscht über die komplizierten Auflagen. Dann muß es wohl ein guter Kompromiß sein. Doch wird ihm keine lange Dauer prophezeit. Es ist die Frage, wie lange die vorhandenen Zellinien in den Exportländern reichen.

Das alles klingt sehr beunruhigend. Die Einzelheiten interessieren uns nicht, doch hören wir mit halbem Ohr hin, um mitzukriegen, ob es denn noch Zweck hat, sich zu wehren. Wenn ja, hätte man die Pflicht, sich einzumischen; wenn nein, bleibt Ignoranz die edelste Haltung. Das Problem ist nur: um festzustellen, ob der Zug schon abgefahren ist, muß man erst den Fahrplan lesen können.

Das Schlimmste an der ganzen Gentechnik ist, daß sie kein normaler Mensch versteht. Wer beschäftigt sich schon mit den eigenen Zellkernen? Da ist ja die Verdauung interessanter. Die Wissenschaftler sprechen in Rätseln, und am Ende kommt heraus, daß wir ja sagen müssen. Was sind eigentlich Stammzellen? Gut, das wurde hundertmal erklärt, es sind unspezialisierte Zellen, die sich zu jeder der 200 Zellarten ausbilden können. Doch was hat das mit dem Embryo zu tun? Hier fängt die Verwirrung schon an. Ja, sagen die Forscher, wir müssen diese Zellen nicht vom Embryo gewinnen, es gibt sie auch im erwachsenen Organismus. Wunderbar, sagen die Lebensschützer, dann könnt ihr eure Forschung gern machen. Ja aber, sagen die Forscher, es sind eben doch nicht genau die gleichen Stammzellen wie beim Embryo, und um herauszufinden, ob man die adulten Stammzellen genauso gut nehmen kann wie die embryonalen, müssen wir erst die embryonalen testen.

Dagegen kann man nichts sagen. Das ist ja das Schlimme, daß man nichts dagegen sagen kann, weil man keine Ahnung hat. So ist es den Abgeordneten wahrscheinlich auch gegangen. Da die Stammzellen unendlich teilbar sind, meint ein Befürworter, brauche man gar keine neuen Embryonen, sondern könne aus den vorhandenen Stammzellinien den weltweiten Bedarf decken. Dann wären die bisherigen Embryonen Märtyrer des Fortschritts oder - kriminalistisch gesprochen - die Leichen im Keller der Medizin. Eine eher romantische als realistische Vorstellung. Schon fordern Unionsabgeordnete, den Stichtag (sozusagen der Todestag des „überzähligen“ Keimlings, der eine neue Linie beginnt) nach hinten zu verschieben, um an mehr Material zu kommen.

Außerdem: Es geht nicht nur um die Embryonen. Es geht auch darum, was mit den Stammzellen weiter passiert. Die Organzüchtung im Labor gehört da noch zu den harmloseren Möglichkeiten. Organzüchtung, das geht ja gar nicht, wollen uns die Forscher auslachen, das glaube vielleicht ein Herr Sloterdijk, der von Biologie keine Ahnung hat, höchstens Gewebekulturen anlegen, mehr sei ja gar nicht beabsichtigt ... Und schon wieder kann der Laie nur mit dem Kopf nicken.

Schafsköpfige Zustimmung und trotzige Ablehnung sind die verbreiteten Reaktionen auf die neue Leitwissenschaft und ihre Folgen. Wir wollen an dieser Stelle künftig die Gen-Debatte verfolgen und Hintergründe erklären. Damit sich jeder selbst eine Meinung bilden kann - trotz Fachfremdheit.


 
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