© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/02 15. Februar 2002

 
Scharfgestochene Miniaturen
Literatur: Walter Kempowski trifft zielgenau ins geistige Zentrum der Republik
Doris Neujahr

Zu reden ist von einem bedeutenden Buch, der Verbitterung seines Autors und von einem exemplarischen, kulturpolitischen Stumpfsinn. Es geht um Walter Kempowski, geboren 1929 in Rostock, der mit seinem Romanzyklus „Tadellöser & Wolff“ und dem „Echolot“, einem collageartigen, „kollektiven Tagebuch“ der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, einen unumstrittenen Rang in der Gegenwartsliteratur einnimmt.

Im Gegensatz dazu steht seine Abwesenheit in öffentlichen Debatten. Ganz freiwillig ist sie nicht. Kempowskis Problem, so der Literaturwissenschaftler Manfred Dierks 1984 entschuldigend, liege weniger „darin, von Konservativen und ‚Rechten‘ für konservativ und ‚rechts‘ gehalten und reklamiert zu werden“, sondern im „Mangel an ausgebildeter Begrifflichkeit und definierten Zukunftszielen“ sowie der Gefahr, „mißverstanden zu werden“.

Richtig ist, daß Kempowski in einer linksdurchwirkten Meinungslandschaft einen erratischen Fremdkörper und für die etablierte Bewußtseinsindustrie einen unverdaulichen Brocken darstellt. So monierte die Frankfurter Rundschau 1999 anläßlich des zweiten „Echolot“-Zyklus’, Kempowski habe „mit neudeutscher Unbekümmertheit (...) allen Opfern die demokratische Segnung völliger Gleichheit zuteil werden lassen, als sei zwischen dem Holocaust, den Gewalttaten der Roten Armee und dem britischen ‚area bombing‘ inzwischen keinerlei Unterschied mehr zu sehen - mit dem Ergebnis, daß so der Anschein entsteht, als habe man nun in Ostpreußen oder Dresden die Opfer eines an den Deutschen begangenen Holocaust zu beklagen.“

Seine Außenseiterposition liegt in seiner Biographie begründet: 1948 wurde er von den Russen verhaftet und zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht in Bautzen absaß. Er hatte sich für das Beutegut interessiert, das die Besatzer abtransportierten. Sein Bruder mußte sogar neun Jahre hinter Gittern zubringen, seine Mutter als angebliche Mitwisserin sechs Jahre. Als er 1956 nach Westdeutschland kam, verweigerte die ehrpusselige Wirtschaftswundergesellschaft ihm die Anerkennung als politischer Gefangener und eine Entschädigung. Mit der westlichen Verharmlosung kommunistischen Terrors konnte Kempowski sich folglich genausowenig abfinden wie mit der deutschen Teilung.

Seit 1960 lebt Kempowski im Dorf Nartum südwestlich von Hamburg. Sein jetzt veröffentlichtes Tagebuch des Jahres 1989, „Alkor“, ist nach dem Stern im Großen Wagen betitelt, der auch „Reiterlein“ oder „Augenprüfer“ genannt wird, weil sein Erkennen mit bloßem Auge als Sehtest gilt. Ein vergleichbarer intellektueller Lackmustest waren die Jubiläen und Ereignisse von 1989.

In „Alkor“ mischen sich politische Betrachtungen mit autobiographischen Reflexionen, Arbeitsnotizen und Alltagsbeobachtungen, die einen kleinen „Dorfroman“ ergeben. Seine ländliche Existenz verschafft Kempowski einen geistigen Zwischenraum, in welchem er eine hintergründige Lebensklugheit kultiviert, die wiederum seinen politisch gänzlich unkorrekten Blick auf seine Umwelt bestimmt. Den täglichen Eintragungen vorangestellt sind Schlagzeilen aus Bild und Neues Deutschland.

Kempowskis Blick fällt auf die verschlampten Studentinnen in seinen Gastvorlesungen, auf ungebildete Schüler, die gar nichts, dafür aber alles besser wissen, auf überzeugungsfeste und „stockdumme“ Feministinnen. Er ist ein Meister der scharfgestochenenen Miniatur: „In Berlin einen Zivildienstleistenden (schönes deutsches Wort) gesehen, der sich mit behinderten Kindern aus Wasserpistolen beschoß.“ Er spottet über die 68er als eine Generation mit „Kraft und Überzeugung (aber wenig Gehirn)“ und ihre „deutsche Art zu diskutieren: sie können nur brüllen“.

Er vermerkt den „saueren Kitsch“ deutscher TV-Produktionen: „Unternehmerschweine und edle Ausländer“, die Hartherzigkeit linker Kirchenfürsten („pensionsberechtigte Gottesmenschen“), die sich über DDR-Flüchtlinge mokieren, das eisige Schweigen, mit dem die einst mao-selige Linke das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens quittiert, die Nervosität der Meinungsmacher über das Eingeständnis stalinistischer Verbrechen durch die sowjetische Regierung: „Keinen Schritt zurück, sonst gerät ihr Alleinvertretungsanspruch auf Selbstbezichtigung in Gefahr.“

Für den Moraltrompeter Horst-Eberhard Richter, der zwischen Ceaucescus Rumänien und der BRD keinen Unterschied erkennen will, schlägt er einen „speziellen Paragraphen“ vor: „Wer trotz umfangreicher Bildung Beklopptheiten verbreitet, wird mit drei Monaten Bautzen bestraft. Aber nein, lieber nicht, sonst schreiben all diese Leute danach Leidensbücher.“ Bissig kommentiert er die deutsche Geschichtspolitik: „Überlegungen zu Ursache und Wirkung sind in unserem Land sowieso verpönt. Wer das Jahr 1933 mit 1919 in Verbindung bringt, wird zum rechtslastigen Schwein erklärt, und aus ist es mit der Demokratie.“

Soviel Eigensinn fordert den Zorn der Pygmäen heraus. Und sie rächen sich prompt, indem sie ihn bei Preisverleihungen übergehen, Fernsehinterviews zensieren, Einladungen verweigern. Als im Herbst 1989 der Spiegel mit der politischen Totschlagkeule droht, spürt Kempowski die Gefahr des sozialen Kältetodes. Gegen die „von Schwachköpfen kanonisierte Meinung“ ist nicht anzukommen, der „Meinungsterror hat sich derartig verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß. Einziger Ausweg: sich dumm stellen.“ Ja, so funktioniert sie, unsere real existierende, freiheitlich demokratische Grundordnung!

Mit Anteilnahme, Begeisterung, dann mit hellsichtiger Skepsis verfolgt er die Vorgänge in der DDR. Rasch erkennt er, daß es dieser verklemmten Revolution an charismatischen Figuren, an intellektueller Kompetenz und politischen Strategien fehlt. „Heute hat die SED gefordert, die Demonstrationen müßten gewaltfrei sein. Was man von den Untersuchungskellern der Stasi hört, klingt aber nicht sehr friedlich.“ Zu den SED-Machthabern: „Im Altertum hätte man diese Leute sofort umgebracht. Nachdenklich macht es, daß drüben niemand zu Schaden gekommen ist. Eigentlich unnatürlich.“

Am 19. November („Ich fürchte, es ist aus!“) sieht er ein gesamtdeutsches „End-Elend“ heraufziehen. Am 29. Dezember 1989 hat die SED/PDS ihr Plätzchen im westdeutschen System gefunden, das Neue Deutschland verkündet: „Für Sicherheitspartnerschaft gegen Neofaschismus“. Kempowski am 31. Dezember resignierend: „Es fehlte das Blut. (...) Die bürgerliche Revolution wurde nicht besiegelt.“

Damit hatte sich seine Hoffnung, in Rostock wieder Anker werfen zu können, faktisch erledigt. Seine Heimatstadt behandelt ihren bedeutendsten Schriftsteller nach wie vor mit beleidigender Ignoranz. Zwar ließ sie sich in den Nachwende-Wirren herab, ihm die Ehrenbürgerwürde zu verleihen, doch schon das Ehrendoktorat der Universität kam nicht mehr zustande.

Eine Gedenktafel an Kempowskis Geburtshaus in der Auguststraße 90, in dem heute ein pensionierter Admiral wohnt, bleibt ein frommer Wunsch, zum runden Jubiläum seines Gymnasiums wurde er nicht eingeladen, und für eine schon fertiggestellte Kempowski-Büste hat die Stadt, die gerade -zig Millionen für ihren autogerechten Umbau verpulvert, angeblich kein Geld.

Am meisten schmerzt Kempowski, daß Rostock sein gewaltiges „Echolot“-Archiv, eine einmalige Sammlung von privaten Briefen, Tagebüchern, Fotos und Dokumenten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, ausgeschlagen hat. Den größten Teil hat er inzwischen der Akademie der Wissenschaften in Berlin übergeben.

Das regionale Monopolblatt und vormalige SED-Bezirksorgan hat im Rathaus eine „gewisse Ratlosigkeit“ ausgemacht. In Wahrheit sind dort systematische Dummheit, Verblendung und der anhaltende Haß von SED-Mitläufern aus Ost und West am Werk. Dem anderen großen Autor aus Mecklenburg, Uwe Johnson, ebenfalls ein politischer „Republikflüchtling“ und bis 1989 eine „Unperson“, ergeht es kaum besser. „Innerhalb von zehn Jahren bot das Germanistische Institut (der Rostocker Universität) nicht mehr als ein bescheidenes Lektüreseminar an (...). In Abschluß- und Graduierungsarbeiten, in Publikationen und Forschungsprojekten der Rostocker Germanistik spielt Johnsons Literatur so gut wie keine Rolle“, lautet das Fazit in der lokalen Literaturzeitschrift Risse.

Dieser Stumpfsinn ist charakteristisch für Mecklenburg-Vorpommern, wo eine SPD/PDS-Koalition die politischen Geschicke bestimmt. In Rostock, der größten Stadt des Landes, hat die PDS die SPD als stärkste politische Kraft abgelöst. Der abgestandene SED-Mief vermischt sich ungehindert mit dem Muff der zugereisten Westlinken. Rostocks Kultursenatorin Ida Schillen beispielsweise, die auf PDS-Ticket fährt, ist eine abgehalfterte Knallcharge aus dem West-Berliner Alternativen-Sumpf. Die Haltung dieses Milieus zu Kempowski ist seit jeher eindeutig: „Hat sich in der DDR gegen den Sozialismus vergangen, dieses Schwein.“ (Eintrag vom 15. Januar 1989).

„Alkor“ wurde an der Peripherie der BRD-Gesellschaft verfaßt, von wo aus es zielgenau ins geistige und atmosphärische Zentrum dieser unserer Republik trifft. Es ist ein aufregendes Buch, lesen wir also Kempowski!

Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989. Albrecht Knaus Verlag, München 2001, 593 Seiten, 29 Euro


 
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