© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/02 15. Februar 2002

 
„Eine nationale Tragödie“
Heinz Schön, Überlebender der Gustloff, über die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten und die Grass-Novelle „Im Krebsgang“
Moritz Schwarz

Herr Schön, Ihr Buch „SOS Wilhelm Gustloff“ hat Günter Grass als Grundlage seiner Novelle „Im Krebsgang“ gedient, die die Versenkung des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 in der Ostsee schildert. Grass erwähnt Ihr Buch sogar ausdrücklich in seinem Text. Sie selbst sind nicht nur einer der intimsten Kenner der historischen Ereignisse, sondern selbst Überlebender der Gustloff-Katastrophe.

Schön: Ich habe schon im Herbst 1945 mit der Materialsammlung zur Aufarbeitung der Gustloff-Versenkung begonnen und im Laufe der Zeit unzählige Zeitzeugen - unter anderem auch Mitglieder der russischen U-Boot-Besatzung, die die Gustloff versenkt hat - befragt und Dokumente gesichtet. Dieses Material habe ich zu mehreren Büchern verarbeitet, nicht nur über die Gustloff, sondern über die Vertreibung aus Ostpreußen insgesamt. Es wurde auch für mehrere TV-Dokumentationen genutzt.

Grass hat sich während der Arbeit an „Im Krebsgang“ an Sie gewandt. Gab es ein Treffen?

Schön: Nein, er hat mein Buch genutzt und mir einen Brief geschrieben. Befragt hat er mich nicht. Allerdings werde ich ihn Ende März auf der Leipziger Buchmesse treffen.

Wie kamen Sie überhaupt auf die Gustloff?

Schön: Ich gehörte zur Besatzung der Gustloff, die 1937 als größter Luxusdampfer der Welt im Zuge der „Kraft durch Freude“ vom Stapel gelassen worden war. Im ganzen Schiff wurden nun Flüchtlinge einquartiert, die Menschen campierten sogar auf den Gängen. Das Schiff war für 1.500 Passagiere und 500 Besatzungsmitglieder vorgesehen, doch am Ende hatten wir etwa 10.000 Menschen an Bord genommen, über 9.000 Zivilisten, hauptsächlich Frauen und Kinder sowie 1.000 U-Boot-Soldaten. Den Russen entkommen, fühlten sich die Flüchtlinge auf der Gustloff beinahe schon in Sicherheit. Doch von diesen 10.000 Menschen sind am Ende 9.000 ertrunken.

Rechneten Sie damit, angegriffen zu werden?

Schön: Wir rechneten mit Minen und mit Flugzeugen, deshalb wurden auch zwei Flak-Geschütze an Deck aufgestellt. Von sowjetischen U-Booten war allerdings keine Rede. Leider gab es an Bord trotz aller Anstrengungen nicht ausreichend Rettungsmittel für so viele Menschen.

Hätten Sie von der Kriegsmarine nicht vor U-Booten gewarnt werden müssen?

Schön: Die Kriegsmarine hatte selbst keine U-Boote in diesem Raum beobachtet. Das sowjetische Boot, das uns schließlich versenkte, die S 13, hielt sich dann auch unplanmäßig in diesem Gebiet auf. Der Kommandant, Alexander Marinesco, hatte sich vor dem Auslaufen seines Bootes aus dem Hafen von Turku in Finnland betrunken und den Ablegetermin verschlafen. Dadurch verpaßte die S 13 den Anschluß an ihr Rudel. Marinesco beschloß, sich vor der Danziger Bucht in Ruhe auf die Lauer zu legen und abzuwarten, was ihm vor die Rohre laufen würde.

Allerdings hätte die S 13 sie übersehen, hätte die Gustloff nicht Positionslichter gesetzt, als sie Marinescos Lauerstellung passierte.

Schön: Es war notwendig gewesen, die Gustloff zu markieren, da uns ein Minenleger-Verband in offener Formation entgegen kam und eine Kollision gedroht hätte. Marinesco entdeckte uns auf halber Strecke zwischen Gotenhafen und Bornholm. Wir hatten am 30. Januar Gotenhafen verlassen, als einziger Begleitschutz eskortierte uns das Torpedoboot Löwe. Der erste von drei Torpedos traf die Gustloff um 21.16 Uhr. Ich war gerade in meine Kabine im Mittelschiff zurückgekehrt, als es einen gewaltigen Knall gab. Zuerst vermutete ich einen Minentreffer, als es dann aber zwei weitere Detonationen gab, war mir klar, daß wir torpediert wurden. Das Licht erlosch, die Maschinen verstummten und wir bekamen Schlagseite.

Es brach Panik aus?

Schön: Natürlich. Ein Torpedo traf unglückseligerweise die Mannschaftsquartiere der Gustloff im Vorschiff. Natürlich fehlten die Leute dann bei der Bedienung der Rettungsboote an Deck. Ich selbst war in meiner Kabine eingeschlossen, denn die Tür hatte sich verklemmt. Zum Glück konnte ich sie schließlich eintreten und versuchen - meine Schwimmweste um den Hals -, nach oben zu kommen. Im Treppenhaus lagen bereits zu Tode getrampelte Menschen. In Minuten versuchten etwa 10.000 Menschen über Treppenhäuser nach oben zu gelangen, die nur für 2.000 Menschen ausgelegt waren. Ich war sofort eingekeilt und wurde quasi mitgetragen, niemand konnte sich mehr frei bewegen, von „gehen“ konnte gar keine Rede mehr sein. An den Wänden wurden Menschen erdrückt, wer fiel, wurde unweigerlich zerstampft. Natürlich fielen als erste die Kinder, dann die Mütter, die versuchten, ihren Kindern zu helfen.

Sie selbst konnten nicht helfen?

Schön: Das war gar nicht möglich. Dieses Menschenknäul wälzte sich völlig unkontrolliert über die Gefallenen hinweg. Als ich nach fünf bis sechs Minuten nach oben „geschwemmt“ worden war, war mein Mantelärmel abgerissen, ein Schuh fehlte und meine Schwimmweste war weg, so dicht war das Gedränge. Das Deck war völlig vereist. Bei minus achtzehn Grad Lufttemperatur und zwei Grad Wassertemperatur überlebt man etwa acht Minuten, wenn man über Bord geht. Also arbeitete ich mich zu den Rettungsflößen vor, die ich schließlich auch erreichte. Doch dann spülte mich eine Welle von meinem Floß. Hätte mich nicht ein anderes aufgenommen, wäre es vorbei gewesen. Später wurden wir vom Torpedoboot T 36 gerettet.

Die Gustloff hatte noch SOS gefunkt?

Schön: Nein, der schwere Kreuzer Admiral Hipper war kurz nach uns aus Gotenhafen ausgelaufen und sichtete unsere Signalraketen. Da die Hipper selbst schon Flüchtlinge an Bord hatte, lief sie weiter, entsandte aber das sie begleitende Torpedoboot T36 zur Gustloff. Auch unser Begleitschiff Löwe barg so viele Flüchtlinge wie möglich. Für 9.000 Menschen, vornehmlich Frauen und Kinder, kam aber jede Hilfe zu spät. Natürlich spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Als ich bereits ins Wasser gespült worden war, sprang plötzlich die gesamte Schiffsbeleuchtung wieder an und man sah deutlich, wie die Menschen in Knäulen von Deck fielen. Ich erinnere mich an eines der Rettungsboote, daß endlich erfolgreich und vollbesetzt zu Wasser gelassen worden war, die Leute darin glaubten sich schon gerettet. Da löste sich eines der Flak-Geschütze und rutschte von dem schlagseitigen Schiff. Das Geschütz stürzte genau in das Boot, zerschmetterte es und die Menschen darin - von denen hat keiner überlebt. Grauenvoll war, wie die über Bord gegangenen Kleinkinder, in ihren Schwimmwesten ertranken. Da das Köpfchen schwerer war, als der kleine Leib, schwammen sie hilflos kopfüber auf dem Wasser.

Die Gustloff war ein Flüchtlingsschiff voller Frauen und Kinder. War die Versenkung ein Kriegsverbrechen?

Schön: Auch wenn es schwer fällt, man muß anerkennen, daß die Versenkung kein Kriegsverbrechen darstellt. Denn die Gustloff war mit einem Tarnanstrich versehen, fuhr mit abgeblendetem Licht und hatte nicht nur zwei Flak-Geschütze sondern auch 1.000 U-Boot-Soldaten an Bord.

Was Marinesco aber nicht wissen konnte.

Schön: Sicherlich, dennoch verhielt sich das Schiff nicht wie ein ziviles Schiff und die Russen konnten sich natürlich denken, daß alle Transporte auch militärisch genutzt würden. Allerdings konnte sich Marinesco ebenso ausrechnen, daß mit Sicherheit auch zahlreiche Flüchtlinge an Bord sein würden.

Muß man der Kriegsmarine nicht vorwerfen, daß sie Soldaten auf einem Flüchtlingsschiff transportierte?

Schön: Die Russen haben damals rücksichtslos auf alles geschossen. Es hätte der Gustloff nichts genützt, wäre die Kriegsmarine rücksichtsvoller gewesen.

Hätte es die Wilhelm Gustloff gerettet, wenn sie sich als ziviles Schiff zu erkennen gegeben hätte?

Schön: Nein, allerhöchstens muß man der Kriegsmarine vorwerfen, daß sie der Gustloff nicht ordentlichen Geleitschutz gegeben hat. Aber die Kriegsmarine hat 2,5 Millionen Deutsche über die Ostsee gerettet. „Nur“ etwa 25.000 Flüchlinge - davon 9.000 auf der Gustloff, 6. 000 auf der Goya und 3.500 auf der Steuben, alle drei von sowjetischen U-Booten torpediert - sind umgekommen, also etwa ein Prozent. Die Kriegsmarine hat damit vielen Deutschen das Leben gerettet, auf diese humanitäre Leistung kann sie bis heute stolz sein.

Erst kürzlich wurde Marinesco in Königsberg ein Denkmal gesetzt.

Schön: Ich bin verständlicherweise empört, auch wenn es kein Kriegsverbrechen war. Wieso wird jemandem ein Denkmal errichtet, dem hauptsächlich Frauen und Kinder und nicht Soldaten zum Opfer gefallen sind. Zumal Marinesco nicht das geringste mit Königsberg zu tun hat.

War der Gustloff-Untergang die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten?

Schön: Wenn man nach der Zahl der Opfer geht, in der Tat. Zum Vergleich, bei der Titanic, die gemeinhin als die schlimmste Schiffskatastrophe gilt, gab es etwa 1.200 Opfer.

Dennoch kennt den Schiffsnamen Wilhelm Gustloff heute kaum noch einer, nicht einmal in Deutschland.

Schön: Im Ausland wird ihr Untergang durch den der Titanic verdeckt, hierzulande, scheint es, wollte man sich lange Zeit gar nicht erinnern.

War der Untergang der Wilhelm Gustloff die Katastrophe ihrer 9.000 Opfer, oder war er eine nationale Katastrophe innerhalb der großen nationalen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges?

Schön: Genau! Es war eine nationale Katastrophe.

Wenn es eine nationale Katastrophe war, warum wird sie dann bis heute völlig verdrängt, wie Sie sagen?

Schön: Das betrifft nicht nur die Gustloff, sondern die gesamte Flucht- und Vertreibungsgeschichte. Ich selbst habe von 1965 an für sieben Jahre in der Forschungsstelle Ostsee, der Ostakademie in Lüneburg, gearbeitet. Diese Forschungsstelle sollte für die Bundesregierung eine Dokumentetion über die „Rückführung von Flüchtlingen über die Ostsee1944 bis 1945“ erstellen.

„Rückführung“?

Schön: Eben, die Leute kamen aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und Pommern, aber es hieß „Rückführung“, das Wort Flüchtlinge gab es offiziell gar nicht.

Unter einer CDU-Bundesregierung?

Schön: Daß die Deutschen im Krieg auch Opfer waren, wurde schon damals unter den Teppich gekehrt. Und als 1969 dann die große Koalition kam, war diese Dokumentation plötzlich nicht mehr notwendig - sie paßte nicht zur neuen Ostpolitik. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Und wenn Sie heute manche Zeitungen anschauen, sehen Sie schon wieder Anfeindungen gegen das Thema, jetzt sogar gegen Günter Grass.

Außer einigen Unangreifbaren, wie Günter Grass oder Guido Knopp, wurde jeder, der das Thema bisher aufgriff, in den Ruf gebracht, ein Revanchist oder Rechtsradikaler zu sein.

Schön: Weil immer unterstellt wird, man wolle aufrechnen. Dabei geht es gar nicht darum. Aber deshalb wird es auch nie eine Ausstellung zum Thema „Verbrechen an den Deutschen“ geben, auf die ich bis heute vergeblich warte.

1959 gab es immerhin schon einmal einen Spielfilm, „Nacht fiel über Gotenhafen“, der die Katastrophe schilderte.

Schön: Der aber kein großer Erfolg war und die Produktionsfirma ruinierte. Die Leute hatten damals andere Sorgen, und es gab für diese Tragödie kein großes Interesse.

Sie haben damals die Produzenten fachlich beraten. Was halten sie von dem Film?

Schön: Was das Dokumentarische betrifft, ist der Film ganz hervorragend, aber die Rahmenhandlung - eine Liebesgeschichte - habe ich immer abgelehnt.

Die Ufa will den Untergang der Gustloff im nächsten Jahr erneut verfilmen. Sind Sie als Berater angesprochen worden?

Schön: Nein.

Auch der Autor des Films „So weit die Füße tragen“, Bastian Clevé, plant einen Film über den Untergang Ostpreußens und die Gustloff.

Schön: Herr Clevé hat mich bereits besucht und mit mir gesprochen. Er hat großes Interesse, seinem Spielfilm einen dokumentarischen Charakter zu geben, und er will nicht nur die Schiffskatastrophe zeigen, sondern auch die Hintergründe der Vertreibung.

Nun hat Grass Ihr Buch „SOS Wilhem Gustloff“ als Grundlage für seine Arbeit genutzt.

Schön: Ja, sämtliche dort präsentierten Fakten sind aus meinem Buch. Sogar die Schlüsselgeschichte von der schwangeren Frau, deren Wehen durch eine Injektion unterbrochen werden, als die Gustloff angegriffen wird und die dann auf der Löwe entbindet, hat er meinen Berichten entnommen. Grass versetzt sich in seinem Buch in dieses nach der Versenkung geborene Kind. Daran angehängt hat er seine Neonazi-Handlung in Schwerin und die Geschichte damit politisiert.

Wie beurteilen Sie das?

Schön: Positiv beurteile ich, daß er die Gustloff-Katastrophe mit seiner Novelle aufgearbeitet hat. Die 9.000 Toten sind also nicht vergessen und es wird daran erinnert, daß nicht nur wir im Krieg Schandtaten vollbracht haben, sondern, daß der Krieg auch unter uns Deutschen Opfer gefordert hat. Es ist wichtig, daß das einmal ins Bewußtsein der Menschen zurückgeholt wird, obwohl ich glaube, daß das nicht Grass’ Absicht war. Negativ sehe ich, wie schon bei dem Spielfilm von 1959, die damit verknüpfte Rahmenhandlung um einen jungen Neonazi.

Die aber kaum dazu dient, die Geschichte wie anno ‘59 massenkompatibel zu machen.

Schön: Nein, wahrscheinlich mußte er das tun, um das Thema vor sich selbst zu rechtfertigen.

Was meinen Sie damit?

Schön: Ich befürchte, er hat wohl nur nach einem Aufhänger gesucht, ein Buch über die vermeintlichen Anfänge des Rechtsradikalismus zu schreiben. Danach, zum Beispiel, würde ich ihn in Leipzig gerne einmal fragen: Ob es ihm wirklich um die Wilhelm Gustloff und ihre Menschen geht, oder ob er sie nur für sein Rechtsradikalismus-Thema benutzt hat.

 

Heinz Schön geboren 1926 in Jauer / Schlesien. 1943 trat Schön in die Handelsmarine ein, im Dezember 1944 wurde er Zahlmeister-Assistent auf dem KdF-Schiff Wilhelm Gustloff, dessen Versenkung am 30. Januar 1945 er als einer von wenigen überlebte. Sofort nach seiner Rettung meldete er sich wieder zum Dienst und half bei elf weiteren Flüchtlingstransporten über die Ostsee. Nach dem Krieg baute er das Gustloff-Archiv auf, eines der größten Dokumentararchive zum Fall Gustloff. Er wirkte an verschiedenen TV-Dokumentationen zum Thema mit und veröffentlichte zahlreiche Bücher (u. a. „SOS Wilhelm Gustloff“, Motorbuch Verlag, 1998)

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