© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
Neuerscheinungen über den Luftkrieg gegen deutsche Städte und den Alltag an der „Heimatfront“
Wolfgang Müller

Am Rande der „großen“ Politik, die während des „Kalten Krieges“ Bonns unterkühlte Beziehungen zu Ost-Berlin diktierte, wurden stets noch gesamtdeutsche Fäden gesponnen. Nur darum war es möglich, daß sich Hans Feldtkeller, der damalige hessische Landeskonservator, seit 1968 mit einem von west- und mitteldeutschen Verlagen getragenen Projekt beschäftigte, das die Kriegsschäden an der historisch wertvollen Bausubstanz zwischen Stralsund und Freiburg dokumentieren sollte. Denkmalpfleger, Architekten und Kunsthistoriker auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ planten eine „Bilanz des Verlorenen“, jener Verwüstungen, die sie ihren jeweiligen neuen „Freunden“ in Ost und West zu verdanken hatten.

Das gesamtdeutsche Unternehmen endete jedoch nach mehrjähriger Vorbereitung ausgerechnet 1972, als in den höheren Etagen der „Wandel durch Annäherung“ proklamiert wurde. Die DDR-Kollegen, Plan war für sie schließlich Plan, machten ungebrochen weiter. 1978 legten sie die Bestandsaufnahme für ihr umzäuntes Territorium vor. Erst zehn Jahre später kamen die Westdeutschen ans Ziel: Der schleswig-holsteinische Landeskonservator Hartwig Beseler präsentierte 1988 zwei Bände, die anhand von über 3500 Fotos aus „Bild- und Schriftquellen rekonstruierte Geschichte“ ins Gedächtnis zurückholten.

Beselers Mammutwerk, im Wachholtz Verlag in Neumünster veröffentlicht, war wie alles Gute auch teuer. Erst eine Lizenzausgabe des Wiesbadener Panorama Verlags, Ende der neunziger Jahre für erschwingliche hundert Mark veräußert, erreichte breitere Leserschichten. Offenbar lief der Absatz so gut, daß der findige Verlag die Rechte an der DDR-Bilanz von 1978 an den Berliner Henschel Verlag verkaufte, der die beiden Bände nun ebenfalls für einen akzeptablen Preis unters Volk wirft. Kurios daran ist nur, daß nicht der geringste Hinweis auf die ursprünglichen Entstehungsumstände und das Datum der Erstveröffentlichung zu finden ist. Der Untertitel, „Schäden und Totalverluste in den neuen Bundesländern“ suggeriert gar, daß die Dokumentation erst nach dem Mauerfall entstanden sein könnte. Aus dem Vorwort von Ludwig Deiters, einst Generalkonservator des Instituts für Denkmalpflege der DDR, wurde das kräftige Bekenntnis zum Sozialismus kurzerhand gestrichen. Nur die Liste der Bearbeiter, unter ihnen der in Elbflorenz unvergessene Fritz Löffler, zuständig natürlich für den „Stadtkreis Dresden“, sowie die Auflistung der „Bezirke“ Schwerin, Rostock, Erfurt, Gera usw., geben aufmerksamen Lesern erste Hinweise auf den DDR-Kontext dieser verdienstvollen Kärrnerarbeit.

Wer die wichtigsten mitteldeutschen Städte, wie sie bis 1943/45 ausgesehen haben, kennenlernen möchte, sollte den relativ geringen Betrag von knapp fünfzig Euro investieren. Starke Nerven sind für die Lektüre allerdings erforderlich. Zumal die DDR-Dokumentation im Vergleich mit dem westdeutschen Gegenstück im Atlasformat erschienen ist, somit größere Reproduktionen erlaubt hat, die das „Früher“ anschaulicher vergegenwärtigen und so die Verlusterfahrungen noch vertiefen.

Schon nach einem ersten flüchtigen Blättern steht eine zeithistorisch gern in Abrede gestellte Dimension des Bombenkriegs gegen das Deutsche Reich außer Frage: Es ging darum, möglichst viele Zivilisten in ihren Wohngebieten zu treffen, zu terrorisieren und zu töten sowie, angesichts der pulverisierten historischen Stadtkerne ganz unbestreitbar, ihnen die Identität zu rauben, sie mental zu nomadisieren. Man muß dafür nicht auf Dresden zeigen, dessen zerstörtes Stadtbild die Präsenz des 18. und 19. Jahrhunderts im Alltag des zwanzigsten wiedergibt und hier auf fast hundert Seiten festgehalten ist. Man schaue sich nur einmal die einstige Residenzstadt Dessau an, die nach Dresden am meisten zerstörte Stadt. Zwei Angriffe, geflogen am 28. Mai 1944 und am 7. März 1945, vernichteten die Innenstadt nahezu vollständig. Oder das gewiß nicht kriegswichtige Halberstadt: „Die Innenstadt wurde am 8. April 1945 durch einen Luftangriff zu drei Vierteln zerstört, dabei fanden 2.500 bis 3.000 Menschen den Tod. Von 19.000 Wohnungen waren 7.200 total zerstört, 1.500 schwer beschädigt. Von 5.400 Häusern wurden 2.200 vernichtet und weitere 800 beschädigt. Von den 1902 gezählten 702 Fachwerkhäusern aus der Zeit vom 15. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, die Halberstadts Ruhm als niedersächsische Fachwerkstadt ausmachten, sanken die meisten in Schutt und Asche.“

Nicht viel anders schaut es in Zerbst aus, noch am 18. April 1945 „durch einen anglo-amerikanischen Luftangriff fast völlig zerstört“. Am Beispiel von Dessau, Halberstadt und Zerbst wird die Methode deutlich: In letzter Minute noch soviel an historischer Substanz zu vernichten wie möglich. Und das tunlichst flächendeckend. Mit Potsdam, Stralsund oder Dresden hatte es eben nicht sein Bewenden. Darin liegt zugleich die eigentümliche Stärke dieser Dokumentation: Dieses systematische Zerstörungswerk noch bis ins kleinste topographische Detail hinein erfaßt zu haben.

In welcher Stimmung erlebten die Deutschen vor allem den letzten Akt dieses Inferno? Walter Kempowski hat im zweiten, Anfang 1945 erfassenden Teil seines kollektiven Tagebuchs vor kurzem eine differenzierte Antwort zu geben versucht. Die „im letzten halben Jahr“ entstandenen Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda, die eine Historikergruppe jetzt ediert, sollte man zwischen seinen halben Meter Kempowski und der 17bändigen, im Sommer 1944 abbrechenden Ausgabe der SD-Berichte plazieren, jene „Meldungen aus dem Reich“, die Heinz Boberach schon 1984 herausgegeben hat.

Ignoriert man die Versuche der Editoren, das Urteil des Lesers in ihren einleitenden Handreichungen festzulegen, kann man die Sammelergebnisse der „Meinungsforscher“ der Wehrmacht über die Stimmung an der „Heimatfront“ - vor allem in der Reichshauptstadt, aus Nürnberg, Hamburg und Wien - relativ ungefiltert zur Kenntnis nehmen. Die Wirklichkeitsfülle läßt sich eben nicht sozialhistorisch kanalisieren. Deshalb sollte man die Berichte auch nicht daraufhin absuchen, welcher Teil der Bevölkerung Anfang 1945 noch „propagandagläubig“ war und welcher „Realitätssinn und Überlebenswillen“ bewies. Für die Kenntnis der „Lebensverhältnisse unter den Bedingungen des Bombenkrieges“ ist, wie die Herausgeber auch einräumen, das komplexe punktuelle, historiographisch kaum reduzible Bild wichtig, die konkrete, im besten Sinne „hautnahe“ Information über Versorgungsmängel und Verkehrsbehinderungen, die etwa in Berlin Ende März 1945 bemerkte Nachlässigkeit der Müllabfuhr, die mangelnde Sauberkeit in Friseurläden, der alltägliche Umgang „mit der Angst und den Folgen der Bombadierungen“. Obwohl im März 1945 aus Berlin auch berichtet wird, daß der „Bombenterror und die abendlichen Angriffe schwer auf den Gemütern“ laste, die Kriegslage zudem extrem pessimistisch beurteilt werde, versichert der Propaganda-Offizier dem OKW glaubhaft, daß sich „ein Großteil der Berliner gelassen und abwartend“ verhalte. Diese unterhalb aller „Stimmungen“ manifestierte, frühere und festere Prägungen verratende „Haltung“, die man in den Jugendjahren der Sozialforschung den „Volks- oder Nationalcharakter“ nannte, macht das eigentliche Faszinosum der Berichte aus. Wolfgang Müller

Schicksale Deutscher Baudenkmale im Zweiten Weltkrieg. Eine Dokumentation der Schäden und Totalverluste auf dem Gebiet der neuen Bundesländer. Henschel Verlag in der Dornier Medienholding, Berlin o. J., 2 Bände, 544 Seiten, über 2.000 Abb., 48 Euro

Wolfram Wette u. a.(Hg.): Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda 1944/45. Klartext-Verlag, Essen 2001, 447 Seiten, Abb., 24,50 Euro


 
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