© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/02 01. Februar 2002

 
Das Primat der Frage
Kino: „Das weiße Rauschen“ von Hans Weingartner
Ellen Kositza

Regisseur Hans Weingartner, 1970 als fünftes von acht Kindern in Vorarlberg geboren, wird nach seiner Auszeichnung mit dem bedeutenden Max-Ophüls-Preis als genialer Newcomer gefeiert und medienwirksam als Tausendsassa präsentiert. Weingartner studierte Gehirnforschung und Neurochirurgie, arbeitete als Kanuführer in Kanada, als Skilehrer in Montafon und absolvierte nebenbei eine Ausbildung zum Kameraassistenten an der Kunsthochschule in Köln.

Das Drehbuch zu seinem Kinodebüt, zugleich der erste Langfilm der Kölner Schule, reichte er als seine Abschlußarbeit ein. Durch vielfältige Fördermittel, unter anderem 155.000 Mark von der Filmförderung NRW, wurde ein Film draus: Zum Studium kommt Lukas (Daniel Brühl, kürzlich in „Nichts bereuen“ auf der Leinwand) vom Land in die Großstadt, bezieht ein Zimmer in der WG seiner älteren Schwester (Anabelle Lachatte). Leicht ungelenk fügt er sich in die urbane Mittzwanziger-Szenerie, beherrscht schnell die üblichen Codes der habituellen Kurzkommunikation („Cool!“, „Geil!“) und folgt Schwester Kati und deren Kiffer-Freund Jochen auf ihre gewohnheitsmäßigen Drogenreisen.

Nach dem Verzehr von halluzinogenen Pilzen gerät Lukas auf eine Reise, die nicht enden soll: Er hört Stimmen, die sich der jeweiligen Akustik des Raumes anpassen, die über ihn reden, ihn auslachen und ihn bedrohen. Neben gehässigen Bemerkungen von Kati und Jochen sind es eine Vielzahl fremder Stimmen, die nur unter dem Brausestrahl der Dusche verstummen. Daniel wird aggressiv, zuletzt gegen sich selbst und stürzt sich aus dem Fenster.

Während des folgenden Psychiatrieaufenthalts (hier wieder mit den üblichen Verstärkungsbildern: Weißkittel und Durchgedrehte) wird bei Daniel eine Schizophrenie diagnostiziert, erbmäßig angelegt, durch die halluzinogene Droge ausgelöst. Mittels starker Medikamente auf „normal“ eingestellt, findet er in der solcherart betäubten Ruhe dennoch kein Wohl. Er setzt seine Arzneien ab, probiert erneut erfolglos den Selbstmord und zieht mit einer Hippie-Gruppe außer Landes, um glücklich zu werden, vielleicht.

Weingartner, der von einem Schizophrenie-Fall in seinem persönlichen Umfeld inspiriert wurde, will die Moral der Geschichte vom Speziellen ins Allgemeine gedeutet sehen, denn „jeder macht doch so eine Art Schizophrenie durch“.

„Das weiße Rauschen“ ist mit Digitalkameras in gewollt dilettantischer „Dogma“-Manier aufgenommen, so gerät ein Drittel der Handlung unscharf und vor allem unterbelichtet, was in den Augen der begeisterten Kritiker jedoch die „einzigartige Qualität“ (Realität!) eher begründet denn mindert.

Einer der schwergewichtigen Sätze in der Saarbrücker Ophüls-Preis-Laudatio beschreibt den Film als „für deutsche Verhältnisse einzigartig“, weil er mehr Fragen stelle als Antworten gäbe. Welcher deutsche Film, seit Leni Riefenstahls „Fest der Völker“ vielleicht, hat je das Primat der Frage zugunsten der Antwort abgegeben? Unkonventionell sei der Film zudem, so die Jury, weil er „in die Realität gehe, statt eine Realität zu bauen“. Wiederum: Haben wir nicht bereits seit spätestens den achtziger Jahren im Kino das Zeitalter des Realismus?

Alles in allem ist „Das weiße Rauschen“ kein wirklich schlechter Film, bezeichnend ist jedoch einmal mehr der verbrämte Kunstbegriff, der Mittelmaß zum Meisterwerk stilisiert.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen