© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   06/02 01. Februar 2002


Verfassung ohne Schutz
Die Politik hat die Kontrolle über ihre Geheimdienste verloren
Dieter Stein

Günter Beckstein (CSU), Innenminister des Freistaates Bayern, hat sich um die Demokratie in Deutschland verdient gemacht. Ungeplant. Zwar ist das von ihm im August 2000 gegen den - zunächst mit Recht zweifelnden - Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) initiierte, unter Staatsrechtlern höchst umstrittene Vorhaben, die NPD durch das Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen, durch schwere Pannen bei der Ausarbeitung der Klageschriften vorerst gescheitert. Beckstein hat als Initiator des Verbotsverfahrens nun aber unfreiwillig die Ehre, das Interesse der Öffentlichkeit auf den blinden Fleck der vielzitierten „Zivilgesellschaft“ gelenkt wurde: das dubiose Wirken der Geheimdienste.

In der vergangenen Woche flogen mehrere Hauptbelastungszeugen der Klageführer gegen die NPD als Top-Agenten des Verfassungsschutzes auf, was dazu führte, daß das Bundesverfassungsgericht sämtliche anberaumten Termine des Verbotsverfahrens platzen ließ. Das Bundesverfassungsgericht fühlt sich dazu mißbraucht, eine von V-Männern des Verfassungsschutzes zu maßgeblichen Teilen bestückte Anklage zuzulassen und ein Verbot der NPD quasi auf „Knopfdruck“ (Focus) auszusprechen.

Plötzlich lichtet sich der Nebel und ermöglicht der geschockten Öffentlichkeit den Blick auf eine gespenstische Szenerie. Die NPD, die zur Schlüsselorganisation der extremen Rechten in Deutschland stilisiert wurde und die willig in- und ausländische Medien mit martialischen Bildern aufmarschierender Skinheads fütterte, entpuppt sich als eine perfekt überwachte, gläserne Organisation. Hans Leyendecker, Geheimdienst-Experte der Süddeutschen Zeitung, stellte am 28. Januar fest: „Jedermann in der Geheimdienstszene weiß, daß keine extremistische Organisation so von Spitzeln des Verfassungsschutzes unterwandert ist wie die NPD.“ Manche wollen bereits von bis zu 120 aktiven V-Leuten in der NPD wissen.

Nun wird das Verbotsverfahren zu einem Bumerang. „Wir müssen die Strukturen zerschlagen“, hatte Innenminister Schily noch vor einem Jahr mit Blick auf die NPD erklärt. Jetzt droht das Verfahren in erster Linie die Strukturen der rivalisierenden Landesämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu zerschlagen. „Die Beamten fürchten um ihr Biotop, die friedliche Symbiose zwischen Verfassungsfeinden und Verfassungsschützern“, ahnt der Spiegel. Jetzt wird klar, weshalb ausgerechnet der nordrhein-westfälische Innenminister Behrens zunächst auf Becksteins Vorstoß im August 2000 mit der Aussage reagierte, ein Verbot der NPD werde die „Eindämmung des Rechtsextremismus eher behindern“. Behrens war wohl am ehesten bewußt, wie umfassend die Agentenstruktur des Verfassungsschutzes in der NPD war. Inzwischen sind Landesvorsitzender und Vize der zu verbietenden Partei in NRW als V-Männer enttarnt worden. Das Verbotsverfahren wurde offenbar gegen die ernsten Warnungen aus den Geheimdiensten von den politisch Verantwortlichen durchgepaukt.

Völlige Panik brach aus, als bei einem Treffen von Leitern der Landesämter im August 2001 in Köln laut Presseberichten der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, forderte, einen „Kassensturz“ zu machen und intern alle VS-Spitzel der NPD offenzulegen. Bis zuletzt weigerten sich die Landesämter, dies zu tun, so daß die bizarre Situation eingetreten ist, daß der Hauptverantwortliche für die Innere Sicherheit in Deutschland, Otto Schily, nicht weiß, welche Landesämter wieviele Spitzel in die zu verbietende Partei NPD entsandt haben. Diese „Realsatire mit völlig grotesken Zügen“ (Dieter Wiefelpütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion) legt den unterm Strich ineffektiven Überwachungswahn deutscher Behörden offen.

Die NPD, immer wieder in Selbstdarstellungen großspurig als „systemoppositionelle“ Partei in Stellung gebracht, ist personell derart ein Teil des „Systems“, daß mit ihr in Karlsruhe nun der Verfassungsschutz selbst vor Gericht steht.

Der Verfassungsschutz in seiner jetzigen Form ist ein Relikt des Kalten Krieges. Er hat nichts zu suchen in Parteien, die sich demokratisch an das Parteiengesetz halten. Entsprechend muß dies dem Verfassungsschutz künftig untersagt werden. Es hat sich nämlich eingebürgert, daß der Verfassungsschutz sich bereits präventiv in neugegründeten Parteien engagiert, selbst, wenn sie nicht einmal als radikal aufgefallen sind, sondern lediglich als Konkurrenten derzeitigen Regierungsparteien ein Dorn im Auge sind.

„Wenn einer in Deutschland eine Partei gründet, die ihre Themen am rechten oder linken Rand sucht und verfassungswidrig riecht, kann er sich schnell auf die ersten cleveren Parteimitglieder stützen: Die Geheimdienste mobilisieren ihre Spitzel.“ (Focus-Chef Helmut Markwort) Preisfrage an Hamburger Bürger: Innensenator Ronald Schill als Chef des Hamburger Verfassungsschutzes dürfte sicherlich die Auskunft erlangen können, daß kein V-Mann in seiner eigenen zunehmend als „rechtslastig“ (mittlerweile übliche dezente Vorstufe für „rechtsradikal“) gescholtenen Partei für die eigene Behörde arbeitet. Wie aber soll Schill eine Auskunft bekommen, ob nicht längst Informanten für die SPD-geführten Düsseldorfer oder Magdeburger Ämter arbeiten und im geeigneten Moment - bei Wahlteilnahme in Nordrhein-Westfalen - für belastendes Material sorgen?

In einem aufsehenerregenden Exklusiv-Interview für diese Zeitung zeigt der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsminsterium, der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission für die Aufsicht über die Geheimdienste, Andreas von Bülow (siehe Seite 3), wie desolat die Zustände sind: Ämter des Verfassungsschutzes waren teilweise federführend in zahlreiche Straftaten mit links- und rechtsextremistischem Hintergrund verstrickt: „Inzwischen kann die Öffentlichkeit nicht mehr unterscheiden - was ist originär und was geht auf das Konto von agent provocateurs.“ Zudem lenkt von Bülow zusätzlich den Blick auf ausländische Geheimdienste, bei deren Abwehr der Verfassungsschutz und der BND offenbar kläglich versagen: „Getrost darf man davon ausgehen, daß auch noch ausländische Geheimdienste in die Verhältnisse hier verwickelt sind, weil auch fremde Mächte ein Vergnügen an der radikalen Szene in Deutschland haben.“

Leider übernähmen viel zuviele Journalisten einfach die Darstellung der Regierungsstellen, beklagt von Bülow. Es war überfällig, daß die chaotische Struktur des Verfassungsschutzes, der sich der Kontrolle der Parlamente zu entziehen versucht, ins Visier der Öffentlichkeit gerät. Es ist nun unsere vordringlichste Aufgabe, die Verfassung vor dem Verfassungsschutz zu schützen.


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