© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
So fängt man sanfte Lämmer
von Klaus Motschmann

Wenige Tage nach Beginn der rot-roten Koalitionsverhandlungen in Berlin hat Gregor Gysi in einem ganzseitigen Interview mit dem Berliner Tagesspiegel eine auf den ersten Blick bemerkenswerte Aussage formuliert: „Ich fürchte eine gottlose Gesellschaft, obwohl ich nicht religiös bin. Eine gottlose Gesellschaft wäre heute eine wertelose Gesellschaft. Und das ist ein wirkliches Risiko. In unserer Gesellschaft stehen alle Werte,von denen wir meinen, daß sie außerhalb bestimmter religiös verankerter Werte liegen, auf sehr tönernen Füßen. Und der Kapitalismus ist nun auch nicht dazu angetan, dauerhafte moralische Werte zu vermitteln.“ (Tagesspiegel vom 16.12.2001)

Diese Aussage hat ein lebhaftes Echo ausgelöst und für erhebliches Aufsehen gesorgt, was ja wohl auch die Absicht am Beginn der Koalitionsverhandlungen war. Sie ist denn auch teils als bloße Taktik zum Abbau der nach wie vor erheblichen Vorbehalte gegen die PDS verstanden worden, weitgehend aber auch als Ausdruck eines „authentischen Wandlungsprozesses“. Für beide Auffassungen gibt es überzeugende Anhaltspunkte; und weil das so ist, trägt die ganze Auseinandersetzung um Gysis Äußerung zunächst nur zu weiterer Verklärung und nicht zur dringend gebotenen Klärung der nach wie vor angestrebten Ziele sozialistischer Politik bei.

Sie werden nach wie vor bestimmt von der Überzeugung, die Friedrich Engels an zentraler Stelle als Ergebnis einer längeren Darstellung wie folgt zusammengefaßt hat: „Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“

Nun hat es mit dem „Sprung“ in die Freiheit trotz mehrfacher Anläufe bislang noch nicht so recht geklappt, weil sich der „garstige Graben“ zwischen Verheißung und Erfüllung, Utopie und Wirklichkeit immer wieder breiter als angenommen erweist. Auch die von den Menschen „gewollten Wirkungen“ haben sich nur teilweise eingestellt, vornehmlich in der Liquidierung ganzer Klassen und der weitgehenden Entchristlichung der Gesellschaft in den kommunistischen Staaten. Aber niemand wird ernsthaft bestreiten, daß sich trotz der massiven Kirchen- und Christenverfolgungen starke christliche bzw. religiöse Traditionen erhalten haben und von einem Absterben der Religion entgegen allen wissenschaftlichen Prognosen keine Rede sein kann. Selbstverständlich fordert diese Tatsache zu einem Umdenken heraus, zumindest in taktischer Hinsicht, aber auch darüber hinaus. Tausende und Abertausende überzeugter Sozialisten sind sich nicht nur über die falschen Wege, sondern auch über das irreale Ziel sozialistischer Daseinsgestaltung klargeworden und haben „mit vollem Bewußtsein“ eine überzeugende Abkehr vom Marxismus vollzogen.

Selbstverständlich ist es denkbar, daß sich auch Gregor Gysi in einem derartigen inneren Wandlungsprozeß befindet, weil er nach dem Zusammenbruch der realexistierenden sozialistischen Systeme 1989/90 an die Heilsaussagen des Sozialismus nicht mehr und an die Heilsaussagen des Judentums oder des Christentums noch nicht glauben kann. Wer möchte das mit Sicherheit entscheiden? Derartige Wandlungen vollziehen sich auch nicht immer mit einem buchstäblichen Blitzschlag wie bei Paulus auf dem Wege nach Damaskus oder bei Martin Luther auf dem Wege nach Erfurt; sie sind in der Regel das Ergebnis eines längeren Erkenntnis- und Erfahrungsprozesses. Insofern sollte man sich mit Mutmaßungen über die subjektiven Motive der Äußerungen Gregor Gysis zurückhalten. Seine weitere politische Entwicklung wird schon bald zuverlässigen Aufschluß über den Sinn seiner Überlegungen geben.

Warum können wir, auch an dieser Stelle grundsätzlich gefragt, bestimmte Entwicklungen nicht abwarten? Warum bewegen wir uns in unseren politischen Auseinandersetzungen mit Vorliebe in einem Nebel von Spekulationen, Mutmaßungen und Illusionen und verdrängen damit bewußt Tatsachen, die zum Verständnis der anstehenden Probleme und als Voraussetzung klarer Entscheidungen in Gesellschaft und Politik sehr viel belangvoller sind als die Mutmaßungen über die persönlichen Einstellungen Gregor Gysis zum wichtigen Thema.

Dazu gehört für diesen Zusammenhang die Tatsache, daß tausende und abertausende Sozialisten unbeirrt von allen Erfahrungen der Geschichte an die Verheißungen ihrer Ideologie innig glauben - „und im Unglück nun erst recht“, um eine bekannte Parole aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hier anzufügen. Nicht aus dem Wissen, sondern ebenfalls aus dem Glauben erwächst den Marxisten nach wie vor die Kraft, jeden Zweifel an der „Wahrheit“ des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus abzuwehren. Jürgen Kuczynski, einer der wenigen umfassend gebildeten Marxisten unserer Zeit, hat auf diese immunisierenden Wirkungen des „Glaubens“ an die Kraft des Sozialismus trotz aller zeitweiligen Rückschläge hingewiesen, als er schrieb:

„Stets hat sich für die Mehrheit der Menschen, in gewisser Weise auch für uns Marxisten, der Glauben stärker erwiesen als das Wissen. Nicht der religiöse Glaube, der auf Offenbarung beruht, wohl aber der Glaube in anderer Form. Das mag merkwürdig erscheinen, bezogen auf Marxisten, trifft aber dennoch zu und ist tausendfach bezeugt, etwa in den schlimmsten Zeiten des Faschismus,und gerade von den besten Antifaschisten. Keiner von uns hat während des Zweiten Weltkrieges mit einer sogenannten ’gesetzmäßigen Niederlage‘ des Faschismus gerechnet. Dieser Ausdruck ist eine allzu leichte Konstruktion der Nachkriegszeit. - Weiter konnte unser Wissen nicht gehen - wohl aber unser Glaube an die Kraft des Sozialismus.“

Die öffentlichen Erklärungen und Verlautbarungen der PDS oder einzelner Funktionäre, zum Beispiel Gregor Gysis, können auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser „Glaube in anderer Form“ - und eben nicht der auf Offenbarung beruhende religiöse Glaube - nach wie vor den Prozeß der politischen Urteils- und Willensbildung dieser Partei bestimmt. Verlauf und Ergebnisse der letzten Parteitage der PDS, vor allem des „Reformparteitages“ von Münster im April 2000, lassen in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel aufkommen. Sie bestätigen vielmehr eine treffliche Feststellung Friedrich Nietzsches: „Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein; gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer wieder für ,wahr‘ halten.“

Die Sozialisten der PDS und ihre Sympathisanten in Gesellschaft und Politik halten die „Glaubenssätze“ ihrer Ideologie deshalb unbeirrt für „wahr“, weil ihnen die wirtschaftliche, soziale, politische und vor allem geistige Situation der Zeit keine Veranlassung bietet, die eigenen ideologischen und politischen Positionen in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil! Sie dürfen sich nach wie vor, sieht man von einer kurzen Phase der Irritationen nach der Wende von 1989/90 ab, des Wohlwollens, der Zustimmung und der Unterstützung des Medien-, Literatur- und Kulturbetriebes sicher sein, bis weit hinein in die evangelische, aber auch in beachtliche Teile der katholischen Kirche. Als ein Beispiel von zahlreichen anderen sei nur an die gemeinsamen Aktionen „Gegen Rechts“ erinnert. Eine wesentliche Rolle in dieser Bündnispolitik hat für die Kommunisten stets ein positiv anmutendes Verhältnis zu den Kirchen bzw. zu einflußreichen christlichen Gruppen und Persönlichkeiten gespielt.

Einmal, um auf diese Weise über eine Kernaussage der marxistischen Ideologie hinwegzutäuschen, nämlich daß „die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik ist“, und daß „die Kritik der Religion mit der Lehre endet, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ sei. Zum andern, um durch die in der Regel demonstrativen gemeinsamen Aktionen die Glaubwürdigkeit der Kirchen in den Gemeinden zu erschüttern und zentrale theologische Begriffe wie Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Hoffnung usw. in einem marxistischen, zumindest in einem säkularen Sinne umzudeuten.

Es ist heute vor allem jüngeren Menschen kaum noch glaubhaft zu vermitteln, auf welch einfache Weise es den Kommunisten immer wieder gelungen ist, ihre politischen, intellektuellen und vor allem kirchlichen Bündnispartner zu täuschen, in den Dienst kommunistischer Politik zu stellen und dabei oft genug die eigenen Positionen freiwillig preiszugeben. Dazu einige Beispiele:

Nachdem in den USA von politisch maßgebender Seite Kritik an den Hilfslieferungen für die Sowjetunion geäußert worden ist, „weil dort die Religion geächtet, die Kirchen verbrannt und die Christen ermordet worden sind“ (Senator Reynolds), gestattete er nach einer Zusammenkunft mit dem orthodoxen Metropoliten im Herbst 1942 die Abhaltung einer Synode, die Öffnung mehrerer Seminare, die Herausgabe einer Kirchenzeitung sowie die Öffnung zahlreicher bis dahin geschlossener Kirchen. Die relativ rasch auflebende kirchliche Arbeit, die überfüllten Gottesdienste und die Unterstützung des sogenannten Vaterländischen Krieges verfehlten ihre beabsichtigte Propagandawirkung nicht. Dem britischen Botschafter in Moskau versicherte Stalin1944 unter Anspielung auf sein Studium in einem theologischen Seminar, daß er „auf seine Weise ebenfalls an Gott glaube“.

Nicht weniger überraschend war die Entscheidung Stalins, im Blick auf die Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ einen Arbeitskreis für kirchliche Fragen einzurichten, in dem kriegsgefangene Pfarrer das „Bündnis zur gemeinsamen Bewältigung des vor uns liegenden Aufbaus“ einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung vorbereiteten. Jeder Pfarrer erhielt ein handgroßes Kreuz, das er über der Gefangenen-Uniform zu tragen hatte. Dabei handelte es sich keinesfalls um bloße Propaganda. Die ersten Anordnungen der sowjetischen Besatzungsmacht nach dem Kriege ließen jedoch keine Zweifel, daß es sich um entscheidende Weichenstellungen einer strategischen Gesamtkonzeption sowohl zur Neuordnung Deutschlands als auch zur erwarteten Auseinandersetzung mit den Westmächten handelte.

So berichtete der Berliner Bischof Dibelius von seinem ersten Besuch bei dem sowjetischen Stadtkommandanten Berlins, Bersarin, wie er ihn durch seinen „Respekt vor den Kirchen“ beeindruckt habe. Bei der bloßen Bekundung des Respektes ist es nicht geblieben. Anläßlich der Vorstellung der neuernannten Berliner Schulräte sprach Bersarin die Erwartung aus, „daß sie die Kinder zur Ehrfurcht vor Gott erziehen“. Tatsächlich hat die sowjetische Besatzungsmacht zunächst (!) nichts getan, was im Widerspruch zu dieser Erwartung und den daraus resultierenden Hoffnungen für die Kirchen und in den Kirchen stand. Dies um so weniger, als das Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht den Kirchen gegenüber eine (zunächst!) überzeugende Bestätigung des Parteiprogramms der KPD war, in dem es von Bekenntnissen zur parlamentarischen Demokratie und demokratischen Rechten nur so wimmelte. Sie gipfelten in der Aussage, daß es unter den „gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen falsch wäre, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“. Das damals gesetzte und bis heute angestrebte Ziel ist die „Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regiemes.“ Dazu konnten auch die Christen ein klares Ja sagen; und sie haben es auch weithin getan - allerdings nicht immer und immer weniger auf den von den Kommunisten gewiesenen Wegen.

Eine Erklärung für die schon bald zunehmenden Spannungen und Enttäuschungen liegt in der damals noch verständlichen Unfähigkeit der Interpretation kommunistischer Texte, sowohl in der Wortwahl als auch in der Definition. Konkret: Was heißt gegen-wärtig? Wie lange dauert die Gegenwart? Und was heißt „antifaschistisch“? Wer definiert diesen Begriff verbindlich?

Die Kirchen leisteten ihren Beitrag zur Neuordnung Deutschlands selbstverständlich im Sinne ihres christlichen Menschen-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses, was ein Bekenntnis zur Schuld der Kirchen und der Christen am Aufstieg Hitlers einschloß. Doch welche konkreten Konsequenzen sollten aus diesem Schuldbekenntnis für die Zukunft gezogen werden?

Es ist in den letzten Wochen anläßlich der Diskussion um den Text der Präambel des rot-roten Koalitionsvertrages intensiv darum gerungen worden, was der PDS zuzumuten sei und was nicht. Distanzierungen vom Stalinismus in der DDR ja, Entschuldigung für die Verbrechen nicht usw. Wann werden endlich die entsprechenden Fragen nach dem Fortwirken des Stalinismus in der evangelischen Kirche gestellt - und möglicherweise sogar beantwortet? Hunderte, wahrscheinlich Tausende Pfarrer, Synodale, Religionslehrer und Gemeindemitglieder warten dringend auf eine Antwort auf die Frage, ob Antikommunismus noch immer ein Indiz auf den „Hitler in uns“ und damit ein Zeichen christlicher Bußfertigkeit ist. Die „Kirche des Wortes“ sollte den ungezählten Worten zu allen möglichen Problemen endlich auch ein „Wort“ sagen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen