© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
Nicht aus des Blechtrommlers Sicht
Stephan H. Pfürtners Danziger Erinnerungen: Nicht ohne Hoffnung - erlebte Geschichte 1922 bis 1945
Wolfgang Müller

Das Danzig der dreißiger Jahre ist dank Günter Grass ein Schauplatz der Weltliteratur geworden, ein ostdeutsches Pendant zum Lübeck der „Buddenbrooks“. Literarisch allerdings - hierin von Thomas Manns Erstling entschieden abweichend - vom schnauzbärtigen SPD-Propagandisten und Nobelpreisträger bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. So stark, daß der Regisseur Volker Schlöndorff seinem Filmskript kaum noch Gewalt antun mußte, um den Zuschauern Ende der siebziger Jahre - kurz vor Ausbruch der weltweiten „Solidarnosc“-Euphorie - eine „multiethnische“ Stadt zu präsentieren, von Deutschen, Polen und peripher von Kaschuben geprägt, deren friedlich-einträchtiges Zusammenleben nur von den bösen, die vermeintlich eingespielten zwischenvölkischen Symbiosen zerstörenden Nazis beendet wurde.

Daß Danzig trotz zeitweiliger polnischer Oberhoheit über Jahrhunderte hinweg eine deutsche Handelsstadt, eine 1933 zu 97 Prozent von Deutschen bewohnte Metropole war, in deren Geschichte nur das zuletzt - Versailles sei Warschaus Dank - auf der Westerplatte und durch die „polnische Post“ allenfalls sich als aggressiver Provokateur bemerkbar machende polnische Element nie die allergeringste Rolle gespielt hat, ging im Zuge der grassierenden westdeutschen Geschichtsvergessenheit einfach unter.

Der Marburger Moraltheologe Stephan H. Pfürtner, geboren 1922 als kleiner Leute Kind in Danzig-Langfuhr, erzählt von diesem im kollektivem Gedächtnis versunkenenen Vineta an der Ostsee. Pfürtner erhebt keine literarischen Ansprüche, und doch kann man seine Erinnerungen als Gegenstück zum imaginären Danzig des peinlich selbstvergessen-polonophilen „Blechtrommlers“ lesen. Trotzdem sei der Leser vorab gewarnt: Pfürtner, dessen Eintreten für die Ökumene und eine „entkrampfte“ Sexualmoral fundamentalistischen Katholiken die Haare zu Berge stehen läßt, hat seine Reeducation-Lektion ebenso gelernt wie sein jüngerer Landsmann Grass. Gleich auf der ersten Seite präsentiert er uns, allen Anstrengungen des international renommierten Freiburger Luftkriegshistorikers Horst Boog zum Hohn, eine der nicht tot zu kriegenden Geschichtslügen aus westalliierten Arsenalen: der „kriegsverbrecherische Terror des Städtebombardements“ habe mit den Angriffen der Luftwaffe auf die englische Stadt Coventry begonnen.

Und die folgenden 600 Seiten sind, bis zu den angeblichen „Raubzügen“ des zu Unrecht so genannten Friedrich des „Großen“, von solchen Umerziehungs-Wahrheiten durchzogen, die Theodor W. Adornos Einsicht souverän ignorien, wonach es ein richtiges Leben im falschen eigentlich nicht geben könne.

So etwas schlägt wahrlich aufs Gemüt des historisch gebildeten Lesers. Sollte aber nicht gegen den Verfasser einnehmen. Denn der Erzähler Pfürtner, der Mann mit dem gußeisernen Gedächtnis, dem atemberaubenden Erinnerungsvermögen an den Danziger Alltag vor und nach 1933, läßt den sich mit nervigen, mitunter von ziemlicher Desorientierung zeugenden Kommentaren fortwährend zu Worte meldenden, umerzogenen Räsonneur schnell vergessen. Es dürfte nämlich, schon gar nicht in der engeren Danziger Heimatliteratur der letzten Jahrzehnte, kaum ein Werk geben, das die über die regionalen Bezüge weit hinausreichende, als zeithistorisches Kaleidoskop konzipierte Erziehungsgeschichte einer ostdeutschen Jugend so plastisch, so präzise erzählt - auch bei der Schilderung der dörflichen Ferienidylle im Danziger Werder jede Verklärung vermeidend - wie Pfürtner dies gelungen ist.

Sehr eindrücklich beschreibt er den Existenzkampf seiner Eltern im Zeichen der Weltwirtschaftskrise, die von polnischer Seite im Freistaat geschürten Spannungen, die eigene Prägung im katholischen „Neu-Deutschland“, die relative Integrität dieses kirchlichen „Sozialmilieus“ inmitten des „nationalen Aufbruchs“, der auch das bis 1939 völkerrechtlich nicht dem Deutschen Reich, sondern der Oberhoheit des Völkerbundes unterstehende Danzig mit Hitlers Machtergreifung erfaßte.

Wie wenig „totalitär“ der vermeintlich „totale Staat“ war, ist am Fortbestand solcher „Parallelgesellschaften“ abzulesen. Auch die „Funktionselite“ in der Marinestadt Kiel, die Pfürtner 1941/42, während seines Medizin- und Philosophiestudiums an der Förde kennenlernte, gehörte dazu: In ihrer für sie charakteristischen, um nicht zu sagen tragischen Mischung aus Identifizierung vornehmlich mit den außenpolitisch-revisionistischen Zielen des NS-Staates und tiefer Verachtung für das Personal der Partei. Mit solchen Momentaufnahmen, geschossen im Haus einer Admiralsgattin im noblen Niemannsweg, erschließt Pfürtner Mentalitäten in einer Weise, wie sie keiner sozialhistorischen Analyse zugänglich sind. Die Komplexität der Charaktere und der Stimmungen, die gebrochenen Loyalitäten im „Doppel-Staat“, gewinnen auch sehr anschaulich in den Porträtminiaturen von Prüntners akademischen Lehrern Kontur: Zum einen in dem mit knappen Sätzen gezeichneten, erst im letzten Herbst in einem Möllner Altersheim verstorbenen Enno Freerksen, in dessen Lehrveranstaltungen nie eine politische Bemerkung fiel, und der doch nicht nur, wie Pfürtner schreibt, „ein ausgesprochen überzeugter Nationalsozialist“ gewesen ist, sondern der NS-Dozentenbundführer der Kieler Universität. Zum anderen in der tastenden, einfühlsamen Art, mit der sich Pfürtner einem Mann aus dem engsten Kreis der Vertrauten des „Meisters“ Stefan George nähert, Kurt Hil-debrandt, der seit 1934 in Kiel Philosophie lehrte. Hildebrandt sei „ziemlich regelmäßig mit dem Parteiabzeichen am Rockkragen“ in den Lehrveranstaltungen erschienen. Aber bei diesem „nachdenklichen“ Philosophen, der fast unsicher auftrat, habe ihn „dieses Enblem“ nicht gestört.

In diesem Umfeld riskiert Pfürtner einige „defaitistische“ Bemerkungen, gerät kurz in die Mühlen von Gestapo und Justiz, kommt aber mit Studienverbot und Frontbewährung davon. Die Kriegserfahrungen im Bereich der Heeresgruppe Nord bis zum bitteren Ende an der Samlandküste, wo Pfürtner die Kämpfe im Raum Cranz und Neukuhren miterlebt, beschließen die Erinnerungen an des Autors Lehr- und Wanderjahre. Daß Pfürtner, der als Freiwilliger den Beginn des Rußlandfeldzuges miterlebte, sich von plumpen „Verallgemeinerungen“ der „Wehrmachtsausstellung“ distanziert, die aus der deutschen Armee eine „Verbrecherorganisation“ machen wolle, oder von den primitiven Thesen Goldhagens über die vorgeblich genetische Judenfeindschaft der Deutschen, zeigt zugleich die Grenzen der Umerziehung auf, die dieser katholische Theologe für sich gezogen hat.

Stephan H. Pfürtner: Nicht ohne Hoffnung. Erlebte Geschichte 1922 bis 1945. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2001, 636 Seiten, 25 Euro


 
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