© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002

 
Die Kunst des Übersetzens
Carl Zuckmayers „Geheimreport“ über Künstler in der NS-Zeit vermittelt ein differenziertes Bild
Karlheinz Weißmann

Als die Deutsche Presseagentur am 16. Januar meldete, daß - fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod - ein Dossier des Dichters Carl Zuckmayer zur Veröffentlichung freigegeben werde, konnte sich kaum jemand vorstellen, daß das außerhalb eines kleinen Kreises von Interessierten für Aufmerksamkeit sorgen werde. Die Existenz der von Zuckmayer 1943/44 für das Office of Strategic Services (OSS) angefertigten Arbeit war außerdem seit längerem bekannt.

Das Manuskript umfaßt etwa 150 Schreibmaschinenseiten und enthält die Charakteristik zahlreicher Künstler, die während des Dritten Reiches Bedeutung besaßen. Sie waren anders als der wegen seiner teilweise jüdischen Herkunft 1933 zuerst nach Österreich, dann in die USA emigrierte Zuckmayer im Land geblieben und galten den Amerikanern als Kollaborateure des Regimes, wenn nicht als Verantwortliche.

In der letzten Kriegsphase wollte man im Fall der Besetzung des Reiches auch auf diesem Sektor Vorbereitungen für durchgreifende Maßnahmen treffen. Allerdings hatte man mit Zuckmayer jemanden um eine Beurteilung gebeten, der - trotz der dringenden Bitte, auch „Dreck“ zu kolportieren - ein erstaunliches Maß an Zurückhaltung, ja mehr noch: an Wohlwollen übte, im Blick auf die ihm zum großen Teil persönlich bekannten Schriftsteller (Ernst Jünger, Friedrich Sieburg, Hans Carossa, Gottfried Benn, Hans Fallada, Erich Kästner), Schauspieler (Heinz Rühmann, Emil Jannings, Heinrich George, Hans Albers), Kabarettisten (Werner Finck, Liesl Karlstadt, Karl Valentin), Verleger (Peter Suhrkamp, Henry Goverts), Dirigenten (Wilhelm Furtwängler), Intendanten und Regisseure (Gustav Gründgens, Veit Harlan, Leni Riefenstahl).

Zuckmayer teilte die Betreffenden in vier Kategorien ein: „aktive Nazis und böswillige Mitläufer“, „gutgläubige Mitläufer, die sich dem Nazi-Zauber nicht entziehen konnten“, „Indifferente und Hilflose“ und „bewußte Träger des inneren Widerstandes“. Zu dieser letzten Gruppe zählte Zuckmayer ausdrücklich auch Ernst Jünger. So heißt es in dem entsprechenden Dossier, er halte Jünger „... für den weitaus begabtesten und bedeutendsten der in Deutschland verbliebenen Autoren. Ich glaube, daß sowohl seine wie seines jüngeren Bruders Opposition gegen das Naziregime echt ist und mit jener nur sehr bedingten Opposition aus anderen konservativen oder Offizierskreisen nicht identisch ist. Bei den Jüngers kommt sie aus tiefren Quellen …“

Weiter schreibt Zuckmayer über Jünger: „Ohne Pazifist oder Demokrat zu sein, ist es ihm bestimmt ernst mit der Vorstellung einer Weltgestaltung vom Geist her und durch das Medium der höchstentwickelten und höchstdisziplinierten Persönlichkeit. Eine isolierte und sehr unbequeme Position - vielleicht bedeutsamer und mindestens interessanter als verwaschene Durchschnittsvorstellungen von Demokratie, sofern sie kein faßbares Konzept haben. Solche Erscheinungen wie E. und F. G. Jünger mögen in einem gegen die Nazis gewandten Nachkriegsdeutschland noch isolierter sein als jetzt, und werden vermutlich von der Mehrheit der Linkskreise als ’reaktionär‘ abgetan und abgelehnt werden. In Wirklichkeit sind sie weniger reaktionär als viele der ’Progressiven‘, die nichts dazu gelernt haben. Es wäre ein großer Fehler sie nicht ernst zu nehmen und ihr Schaffen mit größter Aufmerksamkeit und Vorurteilslosigkeit zu beobachten.“

Eine deutlich negativere Einschätzung legte Zuckmayer im Hinblick auf Gottfried Benn vor, begriff dessen kurze Begeisterung für das Dritte Reich aber immerhin als Ausdruck sehr tief empfundener „geistiger Verzweiflung“. Unter den jetzt und in nächster Zeit in der Frankfurter Allgemeinen abgedruckten Porträts wird man sicher noch auf viele ähnlich überraschende Einschätzungen treffen. Trotzdem bleibt die Frage, woher das - bis in die Fernsehsender und bis zur Bild-Zeitung reichende - Interesse kommt, was die Annahme motiviert, mit dem Text Zuckmayers werde - so Tilman Krauses Einschätzung in der Welt - eines „der heikelsten Dokumente der deutschen Literaturgeschichte“ vorgelegt?

Wahrscheinlich muß man jenseits immer wacher Sensationsgier, die in Ermangelung irgendwelcher Faktenkenntnis einen deutschen Volksstückdichter als amerikanischen Agenten präsentiert, von einer geschichtspolitischen Irritation ausgehen. Die hängt damit zusammen, daß es in den beiden letzten Jahrzehnten gelungen war, jede auf Präzision angelegte Debatte um die kulturelle Lage in der NS-Zeit zu unterdrücken oder zu denunzieren. Gegenüber der sehr stark von Momenten persönlicher Betroffenheit geprägten Auseinandersetzung der fünfziger Jahre - etwa der Kontroverse zwischen Frank Thieß und Thomas Mann - und der „kritischen“ Attitüde der sechziger und siebziger Jahre, die überall mit dem Faschismusvorwurf operierte, hatte sich in den achtziger Jahren eine andere Interpretation Gehör verschafft. Sie bestand darauf, daß es zumindest in der Friedenszeit eine deutsche Literatur gegeben habe, die man unmöglich als „nationalsozialistisch“ in dem Sinne bezeichnen könne, wie das etwa im Hinblick auf die Arbeiten von Hanns Johst oder Hans Friedrich Blunck möglich ist, und deren Niveau außer Frage stand. Dabei ging es nicht nur um die Werke der Jünger-Brüder oder die immer der „inneren Emigration“ zugezählten Jochen Klepper, Reinhold Schneider, Werner Bergengruen, Friedrich von dem Reck-Malleczewen, sondern auch um solche Autoren wie Horst Lange, die das Regime durchaus hofierte, von denen man vielleicht sogar glauben durfte, daß sie „dazugehörten“, deren Texte aber eben eine bestimmte (über kurz oder lang auch entdeckte) subversive Qualität besaßen.

Lange gehörte zu einer größeren Zahl jüngerer Literaten, darunter Wolfgang Koeppen, Elisabeth Langgässer, Marie Luise Kaschnitz, Stefan Andres, Günter Eich und Luise Rinser, die später in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielen sollten, aber ihre ersten Arbeiten in der Zeit des Dritten Reiches veröffentlichten.

Bis auf wenige Ausnahmen - etwa Gedichte von Luise Rinser - waren diese Autoren in ihrem Schaffen von politischem Desinteresse und Konzentration auf das eigene Ich bestimmt. Sie verbanden die Begegnung mit literarischen Ausdrucksformen der Moderne, die sie während des Aufenthalts im - notabene: faschistischen - Italien kennengelernt hatten, und ein existentialistisches Lebensgefühl, das sich von dem verordneten Heroismus deutlich unterschied.

Ihre künstlerische Entfaltung war allerdings nur denkbar, weil die Wirklichkeit der dreißiger Jahre keineswegs dem üblichen Bild von der totalen Erfassung des Einzelnen entsprach. Der Literaturkritiker Joachim Günther urteilte nachträglich, aber in persönlicher Kenntnis: „Aufs Ganze gesehen haben wir jedoch im Innern weit weniger unter Atemmangel gelitten, als es von heute aus den Anschein hat.“

Dieser Hinweis auf die notwendigen Unterscheidungen beim Blick auf die Kulturgeschichte der NS-Zeit erklärt allerdings noch nicht die besondere Perspektive Zuckmayers.

Hier ist eine Bemerkung über dessen eigene ideologische Entwicklung nötig. Für gewöhnlich pflegt man Zuckmayer der Linken zuzuordnen, und es gibt dafür gute Gründe. Allerdings wird dabei übersehen, daß Zuckmayer zu jener Gruppe jüngerer Sozialisten gehörte, die gerade in der Endphase der Weimarer Republik an den bisher gepflegten Vorstellungen irre wurde: Weder glaubten sie an die Fortsetzung des traditionellen Liberalismus, der auf das Massenzeitalter kaum anwendbar schien, noch an eine sinnvolle Übernahme des totalitären Modells der Kommunisten.

Gunther Nickel, dem wir jetzt auch die Veröffentlichung des Dossiers verdanken, hat vergangenes Jahr in einer Untersuchung zum Weltbild Zuckmayers darauf hingewiesen, daß dieser sich unter dem Eindruck der großen politischen und sozialen Krise immer stärker zu der Einsicht gedrängt fühlte, daß man jene Aspekte, die traditionell nur von rechts ernst genommen wurden - etwa die „irrationalen Bedürfnisse der Menschen“ - nicht länger ignorieren dürfe. Insofern erschien ihm der Aufstieg Hitlers auch keineswegs als Ergebnis reaktionärer und faschistischer Machenschaften, sondern als Folge des Versagens jener Kräfte, die 1918 alle Möglichkeiten hatten, einen neuen Staat aufzubauen, vor dieser Aufgabe aber kapitulierten.

In dieser Einschätzung stimmte Zuckmayer mit Sozialdemokraten wie Theodor Haubach, Carlo Mierendorff oder Julius Leber überein, aber er ging noch über deren Position hinaus, wenn er im April 1933 an Friedrich Sieburg enthusiastische Briefe schrieb, mit denen er auf dessen Buch „Es werde Deutschland“ reagierte. So heißt es an einer Stelle: „Es geht alles darum: daß die Nation nicht die Verbindung mit der Wurzel ihres Wesens verliert, daß sie in ihrem neuen Aufbruch geführt und nicht verführt werde, daß ihr aus jedem Spiegel ihr neues, ihr volkhaftes Antlitz und nicht seine Verzerrung, Übersteigerung entgegenblickt.“

In diesen Sätzen kommt nicht nur ein erstaunliches Maß an Zustimmung zur „nationalen Revolution“ zum Ausdruck, sondern eine Erwartung, die sich nur erklärt aus Zuckmayers Kontakt mit jenen kleinen Zirkeln und Gruppen, die „weder rechts noch links“ sein wollten, Jungsozialisten, die nach der Versöhnung von Nation und Sozialismus suchten, und Jungkonservativen, die in der Volksgemeinschaft zwar kein egalitäres, aber ein gegliedertes und den Geboten der Gerechtigkeit folgendes Ordnungsprinzip sahen.

Zuckmayer hat offensichtlich, und das erklärt gewisse, heute irritierende Urteile in den Dossiers, diese politische Sympathie für einen besonderen deutschen oder dritten Weg auch in der Zeit der Emigration nicht aufgegeben. Noch in einem Brief vom November 1941 schrieb er: „Der Nationalsozialismus war und ist vielleicht für viele gute Kräfte, sogar wirklich gute und junge ... faszinierend, nicht wegen der Viecherei oder der Niedertracht womit er Neid und Rachgier organisierte, sondern weil er sich echter Ideale und Ideen, die teils als Traumwunsch schlummerten, teils bewußt überliefert und gepflegt waren ... bemächtigte und bediente. Wie kann der ungeheure Mißbrauch zustande kommen?“

Zuckmayer erwog als Antwort auf diese Frage, daß es sich bei dem NS-Regime um die schlechte Verwirklichung einer an sich guten Vorstellung gehandelt habe, verwarf diese Deutung aber zuletzt, um etwas ratlos festzuhalten: „Also muß es doch daran liegen, daß eine epochale Idee, die den Rohstoff unserer Zeit gestalten könnte, noch nicht geboren ist. Sodass Idee-Ansätze und -keime in das gräßliche Substitut und Viehfutter des Nationalsozialismus verwurstet werden konnten.“

Die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz Zuckmayers spielte auch eine wichtige Rolle für die Entstehung des während des Krieges geschriebenen, schon 1946 uraufgeführten Stückes „Des Teufels General“, das Helmut Käutner 1954 mit Curd Jürgens, Viktor de Kowa und der jungen Marianne Koch verfilmte und zu einem großen Publikumserfolg im Nachkriegsdeutschland machte. In der sehr deutlich an die historische Figur seines Freundes Ernst Udet angelehnten Gestalt des Generals Harras wollte Zuckmayer etwas von der Zwiespältigkeit ausdrücken, in die geraten konnte, wer durch seine Biographie - auch Zuckmayer war dekorierter Frontoffizier des Ersten Weltkriegs - in entscheidende Position gebracht, den Wiederaufstieg Deutschlands aus guten Gründen wünschte und dann erkennen mußte, mit welcher Führung er es zu tun hatte.

Abgesehen von den Böswilligen links und rechts, die Zuckmayers Absichten mißverstehen wollten, haben andere ihm gerade diese Bereitschaft zur Empathie übelgenommen, vor allem Emigranten wie Erika und Thomas Mann, die eine mehr oder weniger moderierte Kollektivschuldthese vertraten. Zuckmayer lehnte die Vorstellung von der gänzlichen Verworfenheit des deutschen Volkes nicht nur wegen ihres inhumanen Charakters ab, sondern auch, weil er glaubte, daß die tieferen Prägungen des Kollektivcharakters durch eine so kurze geschichtliche Phase wie die NS-Zeit kaum beseitigt werden konnten. Seine Einschätzung der in dem Dossier Porträtierten erklärt sich auch aus dieser Annahme, daß die braune Farbe, die zwischen 1933 und 1945 alles bedeckte, nur eine dünne Tünche gewesen sei.

Zuckmayer hat das Gefühl des „Ohne Vaterland nicht leben können“ offenbar niemals verloren. Es spricht manches dafür, daß er auch nach dem Untergang des NS-Regimes und der neuen ideologischen Ausrichtung der Deutschen, dieses Mal an dem Gegensatz von amerikanischem und sowjetischem Block, an dem Gedanken festhielt, daß es eine selbständige deutsche Position geben könnte.

Aus verschiedenen Gründen - durch den Endsieg der Westbindungsbefürworter ebenso wie durch die Umstände der Wiedervereinigung - konnte fast vollständig in Vergessenheit geraten, daß es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine politische Denktradition gab, die, unter Abzug bizarrer Auswüchse, durchaus nachdenkenswerte und in jedem Fall legitime Vorstellungen von der Zukunft dieses Staates und Volkes entwickelte. Um die damals und besonders in der Zwischenkriegszeit geführten Debatten wieder verständlich zu machen, bedarf es heute einer Art Übersetzungskunst, die die damals verwandten Vokabeln kennt, aber auch ein angemessenes hermeneutisches Verfahren zu deren Verständnis bietet. Vielleicht ist das Dossier Zuckmayers ein geeignetes erstes Übungsfeld für diese Disziplin.

 

Der vollständige und umfassend kommentierte Text des Geheimreports erscheint im Frühjahr im Carl-Zuckmayer-Jahrbuch (Röhrig-Universitätsverlag St. Ingbert), herausgegeben im Auftrag der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft von Gunther Nickel, Erwin Rotermund und Hans Wagener. Weitere Informationen im Internet unter www.carl-zuckmayer.de .


 
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