© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/02 25. Januar 2002


Das Duell der Etablierten beginnt
Wahlen in Frankreich I: Hundert Tage bis zur Präsidentschaftswahl / Chirac liegt derzeit vor Jospin
Charles Brant

Am 21. April gehen die französischen Präsidentschaftswahlen in die erste Runde. Einen Monat später wählen die Franzosen ihre Parlamentsabgeordneten. Dieser doppelte Wahlkampf droht lustlos und trübsinnig zu werden. Ein gutgelaunter Premierminister Lionel Jospin, dessen Hand in einer freundschaftlichen Geste auf der Schulter seines Rivalen, des nicht minder fröhlichen Präsidenten Jacques Chirac, liegt: Dieses Foto zierte die Titelseite mehrerer Zeitungen, darunter Le Figaro und Le Parisien. Aufgenommen wurde es in Paris, stilvoll abgerundet durch eine Riege staatstragender Wirtschaftsbosse. Für die Presse erwies es sich als gefundenes Fressen. Nicht wenigen Kommentatoren fiel sofort auf, daß es genau rechtzeitig veröffentlicht wurde, um die „Hundert Tage“ einzuläuten, die Chirac und Jospin von der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen trennen.

Für die Franzosen klingt „Hundert Tage“ nach Schlachtfeld. Historisch ist der Begriff gleichbedeutend mit Napoleons Rückkehr von der Insel Elba im März 1815. Diese Episode endete, wie jedes Schulkind weiß, mit der katastrophalen Niederlage von Waterloo im Juni desselben Jahres. In diesem Jahr hat sich bislang nichts derart Kriegerisches ereignet. Statt dessen schüttelt Chirac Hände, lächelt und erfreut sich allgemeiner Zustimmung. Jospin ist schlechter dran. Er muß sich mit den Forderungen der Ärzte und den widersprüchlichen Äußerungen seiner Ministerin Elisabeth Guigou herumschlagen. Die Richter und die Bauern sorgen für Aufruhr. Zwar haben sich die Polizisten, die im Dezember auf die Straße gingen (siehe JF 50/01), auf ihre Rolle als Ordnungshüter besonnen; dafür haben die Soldaten entdeckt, daß auch sie Grund zur Klage haben. Die eine Hälfte der französischen Bevölkerung hofft, diese Wahlkampfperiode zu nutzen, um auf eigene Probleme aufmerksam zu machen. Die andere Hälfte ringt mit dem Euro und versucht ihre letzten Francs im Winterschlußverkäufen loszuwerden. Entgegen allen Prophezeiungen der Medien kann von einer Revolte keine Rede sein.

Zum Teil ist diese falsche Ruhe sicherlich darauf zurückzuführen, daß die beiden wichtigsten Kandidaten sich bis zum allerletzten Moment bedeckt halten. Frühestens im März, so spekuliert man, werden sie ihren Wahlkampf verschärfen. Trotzdem hat der Endspurt längst begonnen. Vor Weihnachten veröffentlichte Jospins Kabinettschef Olivier Schrameck eine Polemik gegen die Kohabitation des sozialistischen Premiers mit dem Gaullisten Chirac. François Hollande, der Generalsekretär der Sozialisten (PS), bediente sich eines moderneren Mediums und machte im Fernsehen gegen Chirac Stimmung. Elisabeth Guigou (PS) folgte seinem Beispiel und erklärte, Frankreich brauche keinen „Märchenerzähler“ als Präsidenten.

Den Bürgern der westfranzösischen Stadt Tulle versprach Chirac, wirksame Maßnahmen gegen die steigende Kriminalitätsrate zu ergreifen. Die Besetzung eines Ausschusses, der sich mit der Inneren Sicherheit befaßt, gestaltet sich schwieriger als erwartet, da alle „politischen Größen“ unter Chiracs Parteifreunden die Waffen strecken. Philippe Séguin hat sich als unfähig erwiesen, auch Gaullisten-Präsidentin Michèle Alliot-Marie hat mangelndes Kaliber gezeigt. Selbst seinem unglücklichen Widersacher in den Präsidentschaftswahlen von 1995, Edouard Balladur, hat Chirac den Vorsitz dieses Ausschusses angetragen. Balladur, der für das 15. Pariser Arrondissement im Parlament sitzt, hat sich noch nicht entschieden.

Auch die Ehefrauen beider Kandidaten mischen eifrig mit. Bernadette Chirac hat rechtzeitig zur Vorweihnachtszeit ein Buch veröffentlicht. Ihr klassischer Stil und ihre berüchtigte Handtasche sichern ihr eine begeisterte Leserschaft unter den orientierungslosen bürgerlichen Wählern. Sylviane Agacinski, Jospins zweite Frau, hat ebenfalls ihre Distanz zur Politik überwunden. Der intellektuelle Ruf der Feministin und studierten Philosphin, die sowohl Philippe Sollers als auch Jacques Derrida nahesteht, mag so manchen Linken verführen, für ihren Mann zu stimmen.

Die Franzosen verfolgen das Duell zwischen dem früheren Trotzkisten und dem ehemaligen kommunistischen Sympathisanten, der sich als Liebhaber mexikanischer Biere entpuppt hat, mit Resignation. Sie wissen, daß beide Kandidaten gleichermaßen nach Macht gieren und im Grunde ein und dieselbe Weltsicht teilen. Momentan führt Chirac in den Umfragen vor Jospin. Ohne irgend etwas tun zu müssen, erntet der amtierende Staatschef die Früchte der internationalen Krise, die ihn in den letzten Monaten in eine herausragende Stellung katapultierte. Der Premierminister sieht sich mittlerweile mit den Forderungen verschiedener Berufsgruppen konfrontiert, denen er mit einem schier unglaublichen Erfindungsgeist bei der Verteilung von Geldern und Versprechen begegnet.

Über die weiteren „Etablierten“ gibt es wenig zu sagen: gar nichts zu den Kommunisten, die dazu verdammt sind, der „pluralistischen Linken“ die Treue zu halten, um nicht völlig bedeutungslos zu werden. Genausowenig zu den Grünen, außer daß sie mit Noël Mamère einen unberechenbaren Kandidaten ins Rennen schicken. In der neojakobinischen Ecke läßt Jean-Pierre Chevènement seine Muskeln spielen: Über 1.000 Sympathisanten des Linksnationalisten und seiner „Bürgerbewegung“ (MDC) trafen sich letzten Samstag in Europas größter Geschäfts-, Ausstellungs- und Wohnstadt La Défense bei Paris, um unter dem Vorsitz des Schriftstellers Max Gallo den „republikanischen Pol“ zu gründen. Chevènement sieht sich als „die einzige Alternative zum gegenwärtigen System“. Er wird unterstützt von dem Autor Edmonde Charles-Roux, der Résistance-Veteranin Lucie Aubrac, dem Kommunisten Rémi Auchedé und dem Radikalsozialisten Michel Dary (PRG). Aber auch der auf der Liste „Rassemblement pour la France“ (RPF) des rechten Altgaullisten Charles Pasqua ins EU-Parlament gewählte William Abitbol ist jetzt bei der MDC. Chevènement prangert die Dekadenz und Askese an, kritisiert die Kohabitationsregierung und fordert einen „radikalen Bruch mit dem Ein-Parteien-System, in dem Chirac der Vorsitzende und Jospin der Generalsekretär ist“. Daß er vor dem zweiten Wahlgang dazu aufrufen wird, für Jospin zu stimmen, ist dennoch ein offenes Geheimnis.

Dasselbe gilt für Alain Madelin auf der Rechten. Der Kandidat der Liberaldemokraten setzt auf Liberalismus und transatlantische Beziehungen und wird in der zweiten Runde Chirac unterstützen, um sich selbst einen Posten zu sichern. Am aufrichtigsten erscheint noch François Bayrou (UDF), der eine europäische Linie fährt und dem französischen System gegenüber kritisch eingestellt ist. Doch er gilt als wankelmütig.

Von Spannung ist in diesem Wahlkampf keine Spur. Die großen Fragen, die die Franzosen bewegen, bleiben im Hintergrund, während sich die politische Klasse bemüht, ihren Konsens zur Schau zu stellen. Der Abstand zwischen Politik und Wahlvolk wächst. Der Lebensstandard der Franzosen verschlechtert sich unter der Steuerlast. Die Innere Unsicherheit hat das Ausmaß einer Epidemie erreicht. Die brennenden Autos gehören mittlerweile nicht nur in Straßburg zur traditionellen Silvesterfeier. Die geringste Provokation reicht aus, die Vorstädte in Aufruhr zu versetzen. In den Schulen herrscht Apathie gegenüber der wachsenden Gewalt. Arbeitsniederlegungen führen dazu, daß die Post nicht rechtzeitig ausgetragen wird. Der viel zu schnell ins Vergessen geratene Protest der Polizisten zeigt den Verfall der französischen Gesellschaft. Verursacht hat ihn eine tiefe Krise, die stark an jenen Zustand erinnert, den der Politologe Julien Freund als „Dekadenz“ bezeichnet hat.


 
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